Der Freytag: Kalter Krieg und heißer Eiskaffee im Russischen Hof

Es ist Freitag. Ich sitze im Kaffeehaus des Grand Hotels Russischer Hof in Weimar. Im einstigen »Russischen Sektor« der ehemaligen DDR schwingt wenig vom roten Geist von damals mit. Was mag sich alles unter dem oberflächlichen Dasein unserer Gesellschaft, sowohl im Osten als auch im Westen, unter diesem zeitgeistigen Wohnteppich – auf dem wir es uns schön eingerichtet haben – verbergen? Die Menschen mögen es, sich einzurichten, sich mit der Zeit und den Regimen zu arrangieren. Seit 1989 erhielt der Osten Schritt für Schritt das zurück, was Schiller bereits viele Jahre zuvor – hier in Weimar – in die Welt rief: »Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei« (Die Worte des Glaubens, Friedrich von Schiller).

Schiller sah ich heute Morgen, und er beeindruckt mich immer wieder aufs Neue. Es zog mich in das Weimarer Residenzschloss, in die Dichterzimmer. Schiller überstrahlt alles. Mit seinem Freiheitsgedanken leuchtet er zeitlos bis an den Rand der diesseitigen Welt, und was sich seinen Gedanken entgegenstellt, das verglüht in der Gegenwart seiner Worte. Im Schillerzimmer steht in Gold auf die Wand geprägt, etwas unterhalb der Schillerbüste:

»Mich hält kein Band, mich fesselt keine Schranke,

frei schwing ich mich durch alle Räume fort.

Mein unermeßlich Reich ist der Gedanke,

und mein geflügelt Werkzeug ist das Wort.«

(Quelle: F. v. Schiller, Die Huldigung der Künste. Ein lyrisches Spiel, Erstaufführung in Weimar am 12. November 1804. Poesie)

Nach diesen Worten müsste ein ehrfürchtiger Schreiber innehalten und die Worte wirken lassen, da mit ihnen der Gipfel aller Worte erreicht ist. Schiller mag es mir verzeihen; ich schreibe ein paar Zeilen weiter und frage uns alle: Was wäre, wenn viel mehr Menschen Schiller lesen würden?

In Washington D.C. fand dieser Tage der NATO-Gipfel statt. Die Staats- und Regierungschefs der 32 NATO-Mitgliedstaaten feierten das 75-jährige Bestehen der Allianz. Ich blicke soeben auf das Titelfoto des Berichts unserer Bundesregierung (https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/nato-feiert-75-jahre-2298132) und denke nach. Schiller: der Gipfel der Worte, und die NATO: Gipfel in D.C.; wo wird unsere Gesellschaft gipfeln? Auf dem Berg der Humanität und des Friedens? Wohl kaum; die USA wollen Langstreckenwaffen in Deutschland stationieren, und der Kreml spricht von einem Schritt in Richtung Kalter Krieg.

George H. W. Bush, der ehemalige Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, sprach in seiner Ansprache nach dem Gipfeltreffen in Malta im Dezember 1989, das er gemeinsam mit dem sowjetischen Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow abhielt, davon, dass die Zeit des Kalten Krieges vorbei sei. Die Zeiten von Bush und Gorbatschow sind vorbei; jetzt regeln viele NATO-Vertreter das Thermostat für den politischen Raum erneut herunter in Richtung Kalter Krieg, der Kreml hat das Kind bereits beim Namen genannt. Was folgt als Nächstes? Die Aufkündigung des Zwei-plus-Vier-Vertrags? Wettrüsten? Wie lange werde ich noch ohne Passierschein Weimar und das Kaffeehaus im Russischen Hof besuchen können? Der Eiskaffee schmeckt hier vorzüglich; auch die Melange ist eine wahre Gaumenfreude. Der Unrat unter unserem gesellschaftlichen Wohnteppich blickt an allen Ecken und Enden hervor. Wir können die Realitäten nicht mehr leugnen. Biden nennt Selenskyj Präsident Putin, Orban reist verfrüht vom NATO-Gipfel ab und besucht D. Trump in Florida, und die Gesichter auf dem Pressefoto vom oben erwähnten Gipfeltreffen (siehe Link weiter oben im Text) sprechen für sich.

Wir Menschen sollten wieder vermehrt Schiller lesen; am Ende wird sich keiner herausreden können. Eigenverantwortung ist ein großes Thema unserer Zeit, und die alten Teppiche sollten mitsamt des darunter angesammelten Unrats entsorgt werden. Auf dem Parkett der Freiheit lässt sich sehr schön der Tango des zwischenmenschlichen Miteinanders tanzen. Kein Mensch will Krieg – wir alle wollen in Frieden miteinander leben. Wohlstand für alle wird es niemals geben, aber wir können uns gemeinsam das Leben schöner einrichten. Frieden schaffen in Gedanken, das ist der erste Schritt in diese Richtung. »Mein unermeßlich Reich ist der Gedanke, und mein geflügelt Werkzeug ist das Wort.« (F. v. Schiller, Die Huldigung der Künste).

S.

Der Freytag: DerFreytag.de

Dichterzimmer: Schiller