Der Freytag: Am Ende der Welt

Hafen Sassnitz

Die Welt hat ein Ende; alles ist endlich. Nirgends wird mir diese Endlichkeit so deutlich wie am Meer. Im Alltag denken die wenigsten Menschen über ihre Vergänglichkeit nach; warum auch, das Leben pulsiert, niemand hält inne, die Gedanken schweifen in viele Richtungen. Selten sind es philosophische Überlegungen, die den Geist bewegen, denn die Verhaftung im Alltag ist oft zu stark.

Auf Rügen stand ich im Hafen von Sassnitz, beobachtete ein Schiff und eine Möwe. Die Nacht war still, das Wasser ruhig, fast unbewegt, und nach einer achtstündigen Fahrt spürten wir die Erschöpfung. Nach der Ankunft schlenderten wir durch das alte Sassnitz und fanden uns schließlich im Hafen wieder – am Ende der Welt. Von hier aus geht es nur noch mit dem Schiff weiter nach Norden; die Überfahrt nach Trelleborg dauert dreieinhalb Stunden. Obwohl man dann noch immer in Europa ist, in Schweden, erreicht man dort ein weiteres Ende der Welt; ein anderes vielleicht, doch auch Europa ist endlich. Alles ist endlich.

»Das Meer hat mich heute wieder gepackt, und ich glaube, dass es das Einzige ist, was mich vollständig macht und mir Frieden bringt.« schrieb Thomas Mann einst an Ernst Bertram. Vollständig ist man nur, wenn man sich seiner Endlichkeit bewusst ist; erst dann erhalten Zeit und Raum Sinn und Bedeutung. Was nach diesem Zyklus von Entstehen, Bestehen und Vergehen folgt, bleibt eine Frage, die jeder anders beantwortet. Für mich steht fest, dass jedem Ende auch ein Anfang innewohnt. »Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,« sagt Hermann Hesse, und es lohnt, die folgende Zeile nicht zu vergessen: »Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.« Der Salzduft des Meeres dringt in mich ein und berührt meine Seele, ein tiefer innerer Frieden erfüllt mich. Ich spüre: Ich lebe!

Als Fisch im Tierkreis fühle ich mich dem Wasser zutiefst verbunden. Der Wunsch, jetzt einfach ins Meer zu springen, ist stark; der Mut wäre da, doch es ist nicht erlaubt – nicht hier, nicht heute, nicht an diesem Ort. In der DDR hätte ich dies noch weniger gedurft – und gekonnt. Der Hafen von Sassnitz war im Arbeiter-und-Bauernstaat einer der wichtigsten Fährhäfen und spielte eine bedeutende Rolle im Verkehr zwischen der DDR und Schweden. Wegen seiner strategischen Bedeutung und der Nähe zur Grenze des Ostblocks war der Hafen streng bewacht und nur für bestimmte Personen zugänglich – für mich wäre es zweifellos Sperrgebiet gewesen. Heute ist alles offen; niemand bewacht den Hafen mehr. Doch das innere Gebot von Anstand und Respekt vor dem Gesetz verbietet den Sprung in die nächtliche Ostsee.

Der Mond scheint leicht von Wolken verhangen am Nordhimmel; rund 750 Kilometer nördlicher in Deutschland ist die Kühle spürbar. Wäre die Reise 750 Kilometer südlich gegangen, stünde ich jetzt auf dem Markusplatz in Venedig. Vielleicht kämen Gedanken an Thomas Mann: »Es war wie das Rauschen des Meeres, des unendlichen, grauen, salzigen Meeres, das ihm ans Herz griff, ihn ergriff mit unsichtbaren Händen, die von Sehnsucht und Entbehrung geformt waren.« Oder an Richard Wagner, der Venedig ebenso liebte: »Venedig ist das tiefste Erlebnis meines Lebens.«

Der Kreislauf des Lebens; in der nächtlichen Stunde wird die Welt kleiner, der Geist frömmer, die Endlichkeit von uns und allem präsenter. Wie gut wäre es, wenn mehr Menschen diesen Moment der Einsicht erlebten, um sich ihrer eigenen Bedeutung, ihrer Endlichkeit und der Zerbrechlichkeit vieler Dinge bewusst zu werden; viele Kriege würden verhindert, viele Meldungen über Gewalt verstummen. Jeder würde wieder verstehen, dass er ein Teil der Menschheitsfamilie ist, dass er endlich ist, aber seine Spuren hinterlässt. Wer hätte noch den Mut, hier im Hafen von Sassnitz zur nächtlichen Stunde in die Ostsee zu springen? »Das Meer hat mich heute wieder gepackt, und ich glaube, dass es das Einzige ist, was mich vollständig macht und mir Frieden bringt.« Ich hoffe, die Menschen begreifen, wie wichtig Frieden ist. Die See, die Ostsee, befriedet unsere Seelen – am Ende der Welt folgt die Einsicht.

S.

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