Das Leben in der Sperrzone. Wir befinden uns in Sparnberg (Thüringen), in der DDR. «Die Freiheit ist das höchste Gut des Menschen; das höchste Gut kann der Mensch nicht aus sich selbst entwickeln, es ist ihm gegeben.» – Friedrich Schiller. Schiller verweilte lange in Weimar, das ebenso in Thüringen liegt. Diese Zeilen von Schiller haben zwar nicht ihre Gültigkeit verloren, doch in der gelebten Wirklichkeit der Sperrzone DDR sah die Welt völlig anders aus. Zur Zeit des Kalten Krieges, als ich nahe der ehemaligen Zonengrenze lebte, lag Sparnberg nur 60 km von meinem Wohnort entfernt. Und dennoch trennten uns Welten. Ost und West: ein sozialistisches und ein marktwirtschaftlich oder freiheitlich-demokratisches System standen sich Auge in Auge gegenüber. Ich hatte Glück, ich lebte in Freiheit, im Westen – für mich galt Schiller auch in meiner gelebten Wirklichkeit. In der Sperrzone, wie in Sparnberg, herrschte ein Zustand, der einem Gefängnis innerhalb eines landesweiten Zuchthauses glich. Schiller wurde zwar auch dort gelesen, doch gelebt wurden seine Maximen nicht – Marxismus dominierte die Köpfe der Obrigkeit und der Untergebenen.
Ich sah das Video: DDR – Sparnberg in der DDR (Video-Link am Ende im Anhang). Nach wie vor bin ich vom Thema DDR gepackt. Ich möchte immer noch verstehen, was damals geschah und wie es dazu kommen konnte, dass die DDR als ein Baustein unserer Geschichte existierte und ihr Dasein vom Volk so lange geduldet und erduldet wurde. Vielleicht täuscht mich meine Wahrnehmung, doch ich erkenne gewisse Parallelen zwischen damals und heute. Natürlich ist es immer schwierig, die Vergangenheit mit der Gegenwart zu vergleichen und zu fragen: Kann sich die Geschichte wiederholen?
Zurück in der Zeit. Die Saale fließt gemächlich an diesem Fleckchen Erde vorbei; Sparnberg – idyllisch, aber nur scheinbar. Landschaftlich schön, gesellschaftlich eine Bankrotterklärung. Damals, in der DDR-Zeit, gehörte Sparnberg zum Kreis Schleiz; dort saß die regionale Verwaltung. Der Westen – jenseits der Saale – war von der DDR aus unerreichbar. Vor der Teilung Deutschlands war Sparnberg nach Bayern ausgerichtet; alle Geschäfte der Bewohner fanden in den nahegelegenen bayerischen Dörfern und Städten statt. Nach der Teilung mussten sich die Sparnberger umorientieren. Vor der Teilung verband eine Brücke Sparnberg mit dem bayerischen Rudolphstein. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde sie gesprengt, danach gab es nur noch eine Fußgängerbrücke, die die beiden Dörfer über die Saale hinweg verband.
Kurz nach dem Krieg, als es noch etwas humaner zuging, standen auf der bayerischen Seite die Amerikaner und auf der thüringischen Seite die Russen. Es gab einen sogenannten kleinen Grenzverkehr; die Amerikaner und die Russen verbrüderten sich zum Teil und trieben Tauschhandel – es menschelte noch. Doch der Obrigkeit missfiel dieser zwischenmenschliche Kontakt zwischen West und Ost. Die Fußgängerbrücke wurde demontiert. Die menschlichen Brücken rissen ebenso ab. Es war die Geburtsstunde des Kalten Krieges. Die DDR entwickelte sich weiter, es wurde restriktiver; der Arbeiter- und Bauernstaat enteignete, und VEBs und Genossenschaften entstanden. Die DDR bemühte sich zunehmend, die Grenze abzuriegeln, denn die Einheimischen kannten die Schlupflöcher. Es herrschte reger kleiner Grenzverkehr – «es wurde rübergemacht», wie es die Einheimischen nannten. Ein Dorn im Auge des DDR-Regimes. In der Nacht zum 13. August 1961 begann die DDR-Führung mit der Abriegelung der Sektorengrenze und errichtete die Berliner Mauer. Die Teilung wurde vorangetrieben; nahe Grenzstädte wie Sparnberg wurden zu Sperrgebieten mit verschärften Sicherheitsmaßnahmen. Ein Zaun wurde um das gesamte Dorf gezogen; selbst vom Hinterland aus konnte Sparnberg nur durch ein Tor betreten werden, das nur tagsüber geöffnet war. Das Leben im Dorf wurde kompliziert. Das DDR-Regime nahm keine Rücksicht auf die Bewohner. Passierscheine, nächtliche Ausgangssperren und gewaltige behördliche Schikanen drangsalierten die Bewohner.
Nachts. Die Absperrung zum Hinterland wurde einfach dicht gemacht. Pech für diejenigen, die dann noch ins Dorf wollten. Sperrstunde war um 22 Uhr. Wer zu spät zurückkam, musste vor den verschlossenen Toren warten, bis die Tore morgens wieder geöffnet wurden. Unmenschlich und heute unvorstellbar für uns. «Die Freiheit ist das höchste Gut des Menschen; das höchste Gut kann der Mensch nicht aus sich selbst entwickeln, es ist ihm gegeben.» Friedrich Schiller hat sich bestimmt mehrmals im Grab umgedreht, angesichts des Irrsinns, der im Land der Dichter und Denker nach seinem Tod geschah. Sparnberg wurde zum Indikator für die deutsche Teilung. Durch die Saaleschleife und seine exponierte Lage war es von der Westseite aus wie auf einem Präsentierteller gut einzusehen. Filmer, Fotografen und andere konnten jede Bewegung im Dorf beobachten. Wie kaum irgendwo sonst ließen sich die Ausbaustufen der Zonengrenze von der Westseite aus so gut dokumentieren.
Jeder Irrsinn endet irgendwann. Es bleibt nur die Frage: Wie viele bleiben in dieser Zwischenzeit auf der Strecke? Bei Fluchtversuchen aus der DDR starben nach aktuellen Schätzungen insgesamt etwa 600 bis 1.100 Menschen. Diese Zahl umfasst alle Todesfälle an der innerdeutschen Grenze, der Berliner Mauer und auch bei Fluchtversuchen über andere Routen. Die Mauer stand von 1961 bis zu ihrem Fall 1989. Im Jahr 1990 wurde ein provisorischer Steg über die Saale errichtet. Die Bauarbeiten für eine feste Brücke an der Stelle der einstigen überdachten Holzbrücke begannen 1991. In dieser Zeit entwickelten sich auch erste Gewerbebetriebe in Sparnberg. Am 17. September 1993 wurde die neue Brücke feierlich eingeweiht. Aus diesem Anlass organisierten die Sparnberger gemeinsam mit den Rudolphsteinern das erste Brückenfest.
Sparnberg hat die DDR überlebt. Die Sperrzone ist Geschichte. Nach all den Jahren seit der Wiedervereinigung und mit Blick auf die Gegenwart könnte man die Frage stellen: Ging der Osten im Westen auf oder der Westen im Osten? Welches System, welche Ideologie hat überlebt und wird heute gelebt? Zustände entwickeln sich; sie besitzen immer eine Vorgeschichte. Was verbinden wir heute mit den Schlagworten «Ost und West»? Unfreiheit und Freiheit? Welche Kriterien wollen wir heranziehen, um letztlich aus der Geschichte zu lernen? Laotse sagte einst: «Verantwortlich ist man nicht nur für das, was man tut, sondern manchmal viel mehr für das, was man nicht tut.» Das kritische Nachdenken und Hinterfragen liegt in unserer aller Verantwortung. «Die Freiheit ist das höchste Gut des Menschen; das höchste Gut kann der Mensch nicht aus sich selbst entwickeln, es ist ihm gegeben.» (F. Schiller).
Bald jährt sich der 9. November 1989. Es ist an der Zeit: Sapere aude!
S.
Anhang:
DDR – Sparnberg in der DDR: https://www.youtube.com/watch?v=6zYPCrODFoU&