Tagesnotiz

Sonntagsblick. Weitblick auf die Welt. Hinter den kleinen Hügeln befindet sich das Haff und hinter dem Haff die Nehrung; ich denk‘ an Ostpreußen und an viele Vorfahren; ans Sudetenland; an Pommern und ans Memelland. Ich lese im Moment das Buch »Ostpreußen ade« und schau‘ auf dem Amazon Prime Kanal »Historama« die Dokumentationen über Ostpreußen durch; seit Jahren spüre ich eine fremd-vertraute Beziehung zu diesem Landstrich. Ich würd‘s gern Thomas Mann gleichtun; er liebte diese Region ebenso. Sein Sommerhaus in Nida (Nidden) steht inmitten der Landschaft der Kurischen Nehrung; zwischen Ostsee und Haff; früher war dies ein Teil Ostpreußens; das sogenannte Memelland. Ich kenne keinen Flecken Erde, der mich so zärtlich tief an meiner kreativen Melancholie berührt wie Ostpreußen. Sie waren Kämpfer und Trinker; hatten strenge Winter und ein karges, hartes Leben; Pferde sind wichtiger gewesen als der erste neu geborene Sohn. Ein Soldatenvolk mit der schönsten Landschaft Europas; Gutshöfen und Herrenhäuser – Ostpreußen ade; es heißt jetzt anders. Deutsche gibt es dort noch; eine Minderheit. Sie sprechen eine alte Sprache, die wir nur teilweise verstehen. Sie sind ebenso Europäer und das ist gut so; es ist, wie es ist, die Zeit hat ihre eigenen Regeln. Sie sind – wieder – näher an der Ostgrenze. Schon einmal wollte »Barbarossa« den Bären die Zähne zeigen; 1812 hat sich bereits zuvor ein Franzose die Zähne am Frost ausgebissen. Der Sender Gleiwitz funkt wieder; die Vergangenheit spielt ihre Lieder. Hinter den Hügeln herrscht Stille im Haff; ich stehe in Oberhaid bei Bamberg, der Main ist nah; noch ahne ich nichts davon, wie mich im nahe gelegenen Wald die Stechmücken attackieren werden; so schlimm habe ich es selten erlebt; wie in Ostpreußen; kurz vorm 22. Juni 1942. Gestern, zum Zeitpunkt der Wanderung, war der 23. Juni 2024. Hoffen wir, dass »Barbarossa« eine Singularität im kosmischen Kontext bleiben wird; schwarze Löcher verschlucken alles; kein Licht entkommt.

S.