Der Freytag: In der Natur und mit Gedanken über Thomas Bernhard – Motorsäge gegen das Vergessen

Was bedeutet es, gegen das Vergessen anzuschreiben? Ich habe fast vergessen, wie es ist, zu schreiben, aber kann man wirklich vergessen zu schreiben? Nein; wahrscheinlich nicht. Heute schreibe ich; auch gegen das Vergessen. Halte den Moment, die Zeit, den Tag, die Woche, die Gedanken fest. Zeichne und dokumentiere. – Wer schreibt, vergisst nicht; wer schreibt, schreibt in letzter Konsequenz immer für sich selbst – um nicht zu vergessen. Wir haben viele Gedanken. Vieles wird vergessen, wenn man nicht schreibt. Viele führen Tagebücher; manche schreiben Blogs oder Kolumnen; aber alle schreiben für sich selbst gegen das Vergessen an.

Die letzte Woche war durchwachsen; viele Termine und wenig Zeit für Mußestunden – ich habe das Schreiben fast vergessen. Heute hatte ich die Nase voll und fuhr mit Bettina in den nahe gelegenen Park. Nicht, um Holz zu fällen; aber um die Woche ausklingen zu lassen, um zu vergessen. Ich trank Kaffee und dachte über Thomas Bernhard nach. Kein Autor zog mich 2024 so sehr in seinen Bann wie er. Für mich ist 2024 mein ganz persönliches Thomas Bernhard Jahr. Obwohl in diesem Jahr der Rest der Welt Franz Kafka gedenkt, um sein Vergessen werden entgegen zu wirken; gedenke ich Thomas Bernhard. Kafkas Todestag jährt sich heuer zum hundertsten Mal. Thomas Bernhard wird man genauso wenig vergessen wie Frank Kafka: Sie haben sich beide in den Olymp der Unsterblichkeit hochgeschrieben.

In Wien bin ich gewesen; im Zentrum des Bernhardschen Wirkungskreises; im Epizentrum der Bernhardschen Welterschütterung: im Burgtheater. Bernhard, 1931 in den Niederlanden geboren und in Österreich aufgewachsen, erlebte die Nachkriegszeit und das Aufkommen einer neuen politischen Ordnung. Er, der unvergleichliche und unvergessene Dramatiker, ist bekannt für seine kompromisslose Kritik an der österreichischen Gesellschaft und an der menschlichen Natur. Seine Prosa zeichnet sich durch lange, verschachtelte Sätze und eine nahezu hypnotische Satz- und Wortwiederholung aus. Seine Texte sind oft monologische Tiraden, die von einem verstörenden Humor und einer gnadenlosen Analyse der menschlichen Schwächen geprägt ist. – Ich liebe den Bernhardschen Stil zu schreiben und die Last der Schachtelsätze ruht auch auf meinen Schultern; wie kann ich nur diese Art zu schreiben wieder vergessen? – Unmöglich; denke ich mir; trinke meinen Kaffee im Park und sehe all die Menschen um mich herum ihren Gedanken und Sehnsüchten folgend herumziehen. Keiner kann seinen Wünschen entkommen, sie vergessen. In der Ferne klingt eine Motorsäge von einem holzfällenden Zeitgenossen.

Ich denke an Bernhards Werk: »Holzfällen. Eine Erregung». In diesem Buch skizzierte er ein bitteres Porträt über die Wiener Kunstszene. Seine scharfe Zunge und sein Hang zur Übertreibung lassen keinen Zweifel an seiner Verachtung für die Heuchelei und den Opportunismus, die er in seiner Umgebung wahrnahm. »Ich habe mich in den Ohrensessel fallen lassen und sofort bereut, mich überhaupt in diese Gesellschaft begeben zu haben. Diese Menschen sind mir von Anfang an zuwider gewesen, und es war ein Fehler, ihrer Einladung zu folgen. Sie reden und reden, als gäbe es nichts Wichtigeres, als sich selbst zu hören. In Wirklichkeit sind sie alle leer, ihre Worte hohl und ohne Bedeutung. Jeder Satz, den sie sprechen, ist eine Lüge, und ich frage mich, wie lange ich diese Farce noch ertragen kann.« (Thomas Bernhard, Holzfällen. Eine Erregung, 1984).

S.

Der Freytag: DerFreytag.de