Warum wir in Zeiten digitaler Überflutung das gedruckte Wort mehr denn je brauchen
In einer Welt, in der künstliche Intelligenz unsere Texte schreibt, Algorithmen unsere Lesegewohnheiten steuern und digitale Kurzformate unsere Aufmerksamkeitsspanne auf Sekundenfragmente reduzieren, geschieht etwas Erstaunliches: Die Buchverkäufe steigen. Während Tech-Milliardäre uns das Metaversum als die Zukunft der menschlichen Interaktion verkaufen wollen, sitzen Menschen in überfüllten U-Bahnen mit aufgeschlagenen Büchern. Während Bildschirme uns mit Endlos-Scrolling hypnotisieren, greifen immer mehr Menschen nach dem analogen Gegenmittel – dem Buch. Es ist, als würde unsere digitalisierte Gegenwart eine tiefe Sehnsucht nach dem Beständigen, dem Greifbaren, dem Narrativen wecken. Eine Sehnsucht, die uns zeigt: Der Homo digitalis sehnt sich nach seiner Verwandlung zurück zum Homo legens.
Die Renaissance des Lesens
Das Buch lebt. Es wird viel gelesen. Und ich zähle mich selbst zu dieser besonderen Gattung: Homo legens – der lesende Mensch. Im Moment lese ich völlig begeistert „Der stille Freund“ von Ferdinand von Schirach. Leider bin ich bereits auf den letzten Seiten angelangt. Doch mein Lesestapel gleicht dem Felsen des Sisyphos – er wächst unaufhörlich, gleichgültig, wie sehr ich mich mühe, ihn zu erklimmen. Das nächste Werk liegt bereits bereit, wartet geduldig auf seine Stunde.
Diese Erfahrung des unendlichen Lesestapels ist mehr als eine persönliche Marotte. Sie ist Symptom einer kulturellen Bewegung, die sich gegen die Flüchtigkeit unserer Zeit stemmt. In einer Epoche, in der Informationen in Millisekunden veralten und Nachrichten sich im Stundentakt überschlagen, bietet das Buch etwas Revolutionäres: Beständigkeit. Ein Buch, einmal gedruckt, bleibt. Es ändert sich nicht heimlich über Nacht durch ein Update. Es sammelt keine Daten über unser Leseverhalten. Es ist einfach da, geduldig, verlässlich, analog.
Die Macht des Narrativs
Lasst uns über Bücher sprechen. Demnächst starten meine Frau und ich – sie ist ebenfalls eine passionierte Leserin – unseren gemeinsamen Buchpodcast mit dem Namen „buch.radio“. Den Kanal findet ihr unter: https://www.ganjingworld.com/s/KYxW6AEmoG. Ihr könnt gerne bereits jetzt ein Like dort hinterlassen und uns folgen, damit ihr keine Sendung verpasst.
Die Idee entstand, wie die besten Ideen entstehen: ungeplant, organisch, aus der Leidenschaft heraus. Wir erzählen uns schon seit Jahren, welche Bücher wir gerade lesen. Wir lesen uns Passagen vor, die uns begeistern, gefallen, inspirieren. Während einer Wanderung neulich – auch so ein analoger Akt des Widerstands gegen die Beschleunigung – kam uns der Gedanke: Warum diese Gespräche nicht mit der Welt teilen? Daraus entstand „buch.radio“.
Was mich immer wieder erstaunt, ist die schiere Anzahl der Menschen, die sich für das Gedruckte interessieren. Auf den vielen Lesungen, die ich besucht habe, herrschte stets reger Andrang. Die Buchläden sind voller, nicht leerer geworden. Die Menschen drängen sich bei Literaturfestivals, lauschen gebannt, wenn Autoren aus ihren Werken lesen. Sie sind nach wie vor – nein, mehr denn je – an Geschichten interessiert und an den Menschen, die sie erschaffen.
Homo narrans: Die anthropologische Konstante
In meiner vorherigen Kolumne „Der Freytag: Gefühlte Wahrheiten – Von narrativen Emotionen und der Verführung des Erzählens“ schrieb ich: „Wir sind, wie Breithaupt es ausdrückt, zutiefst geschichtenerzählende Lebewesen – Homo narrans. Sprache entspringt dem sozialen Hintergrund und kreist um ihn. Sie ist ein Werkzeug zur Erkenntnisgewinnung, aber auch zur emotionalen Verbindung.“ Professor Dr. Fritz Breithaupt von der Indiana University Bloomington hat dies während der Bamberger Hegelwoche 2025 eindrücklich dargelegt.
Diese Erkenntnis ist fundamental. Wir sind emotionale Lebewesen, die Geschichten nicht nur mögen, sondern sie zum Überleben brauchen. Ein Verhalten, das uns seit der Urzeit begleitet und unser Überleben erst ermöglichte. Ohne die Geschichten, die wir uns gegenseitig erzählten, wären wir heute vielleicht nicht hier.
Früher waren es die Geschichten, die lebenswichtige Informationen transportierten: Wo der Säbelzahntiger lauert, wie man ihm ausweicht, wie man Feuer macht. Diese narrativen Strukturen haben sich tief in unser Bewusstsein eingegraben. Sie sind nicht nur Unterhaltung, sie sind Überlebensmechanismus, Identitätsstifter, Sinngebungsmaschine.
Breithaupt nennt uns treffend Homo narrans. Doch in unserer digitalen Gegenwart droht diese narrative Kompetenz zu verkümmern. Social-Media-Posts reduzieren Geschichten auf Fragmente. TikTok-Videos komprimieren Erzählungen auf Sekunden. Die große, ausladende Erzählung, die Zeit braucht, sich zu entfalten, die Geduld fordert und Aufmerksamkeit belohnt – sie findet ihren letzten Zufluchtsort im Buch.
Die Intimität des Lesens
Es lebe das Narrativ! Lasst uns über Bücher sprechen. Welches Werk ich für die erste Folge unseres Podcasts auswählen werde, weiß ich noch nicht genau. Aber ich kann bereits verraten: Meine große Leidenschaft gilt den Tagebüchern.
Ich habe die Tagebücher von Richard Wagner verschlungen, die monumentalen Aufzeichnungen von Thomas Mann begonnen, die präzisen Beobachtungen Ernst Jüngers studiert, die selbstreflexiven Notate Max Frischs durchdrungen. Tagebücher sind die intimste Form der Literatur – ungefilterte Gedanken, rohe Emotionen, der Mensch im Dialog mit sich selbst.
Auch Briefe finden meine Aufmerksamkeit. Besonders empfehlen kann ich den Briefwechsel zwischen Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt – zwei Titanen der Schweizer Literatur im intellektuellen Schlagabtausch. Oder die Korrespondenz zwischen Goethe und Schiller – ein Dialog, der die deutsche Klassik formte. Die Briefe von Hans Werner Richter, dem Gründer der Gruppe 47, sind ebenso erwähnenswert – Zeitdokumente einer literarischen Revolution.
Die Poesie des Alltäglichen
Verwurzelt bin ich jedoch in der Welt der Lyrik. Sie ist meine wahre Leidenschaft. Gedichte sind konzentrierte Sprache, destillierte Emotion, kristallisierte Erfahrung. In einer Zeit, die nach Effizienz schreit, ist Lyrik der ultimative Akt des Widerstands – sie nimmt sich Zeit für jedes Wort, jede Silbe, jeden Klang.
Bettina, meine Podcast-Partnerin, ist die Dame der Prosa. Sie hat mir bereits viel über Emerson erzählt – seine philosophische Tiefe, seine transzendentale Sprache faszinieren sie. Auch Mark Twain hat es ihr angetan: sein beißender Witz, sein subversiver Humor, aber auch seine überraschende Tiefgründigkeit.
Bei der Prosa bin ich selbst ein großer Bewunderer Max Frischs – ich habe nahezu sein gesamtes Werk gelesen. Seine Fragen nach Identität, nach Authentizität, nach der Möglichkeit von Wahrhaftigkeit in menschlichen Beziehungen treffen den Nerv unserer Zeit. Thomas Bernhard zählt ebenso zu meinen geliebten Autoren – seine radikale Sprachkritik, sein kompromissloser Blick auf die österreichische Gesellschaft, seine musikalische Prosa. Thomas Mann mit seiner epischen Breite, Ferdinand von Schirach mit seiner präzisen Kühle – sie alle formen mein literarisches Universum.
Das Buch als Widerstand
In einer Zeit, in der Aufmerksamkeit zur knappsten Ressource geworden ist, in der Konzentration als Luxus gilt, ist das Lesen eines Buches ein revolutionärer Akt. Es ist die bewusste Entscheidung, sich Zeit zu nehmen. Die Weigerung, sich von Notifications unterbrechen zu lassen. Der Entschluss, in die Tiefe statt in die Breite zu gehen.
Bücher fordern uns heraus. Sie verlangen, dass wir uns auf sie einlassen, dass wir mitdenken, mitfühlen, uns verwandeln lassen. Ein gutes Buch verändert uns. Es hinterlässt Spuren in unserem Denken, prägt unsere Sprache, erweitert unseren Horizont. Das kann kein Tweet, kein Instagram-Post, keine WhatsApp-Nachricht.
Ein Aufruf zum Lesen
Die Renaissance des Lesens, die wir gerade erleben, ist mehr als ein Trend. Sie ist eine kulturelle Notwendigkeit. In einer fragmentierten Welt bieten Bücher Kohärenz. In einer beschleunigten Zeit schaffen sie Räume der Entschleunigung. In einer oberflächlichen Kultur ermöglichen sie Tiefe.
Lasst uns diese Bewegung stärken. Lasst uns über Bücher sprechen, sie empfehlen, verschenken, diskutieren. Lasst uns Lesekreise gründen, Buchhandlungen unterstützen, Bibliotheken besuchen. Lasst uns dem Homo narrans in uns Raum geben.
Wenn Sie bis hierher gelesen haben, dann gehören Sie bereits dazu. Sie haben sich die Zeit genommen, haben der Versuchung des schnellen Konsums widerstanden, haben sich auf einen längeren Text eingelassen. Das macht Hoffnung.
Epilog: Eine Einladung
Begleiten Sie uns auf dieser Reise durch die Welt der Bücher. Abonnieren Sie „buch.radio“, wo meine Frau und ich unsere Leidenschaft für Literatur teilen werden. Wir werden nicht nur über Bücher sprechen, sondern über das, was sie mit uns machen – wie sie uns formen, herausfordern, trösten, inspirieren.
In der ersten Folge werde ich vielleicht aus den Tagebüchern lesen, die mich so faszinieren. Oder ich wähle ein Gedicht, das die Essenz dessen einfängt, was Literatur für mich bedeutet. Bettina wird sicher eine jener Prosa-Passagen mitbringen, die sie zum Nachdenken, zum Lachen oder zum Weinen bringen.
Wir laden Sie ein, Teil dieser Konversation zu werden. Denn Bücher leben nicht nur durch das Lesen, sondern durch das Sprechen über sie, durch das Teilen der Begeisterung, durch den Austausch der Gedanken. In einer Zeit, die uns isoliert, können Bücher uns verbinden. In einer Welt, die uns abstumpft, können sie uns wieder fühlen lassen.
Folgen Sie uns auf https://www.ganjingworld.com/s/KYxW6AEmoG. Lassen Sie uns gemeinsam die Welt der Bücher erkunden, ihre Geheimnisse entdecken, ihre Schätze heben. Denn eines ist sicher: Solange es Menschen gibt, die lesen, solange es Menschen gibt, die Geschichten erzählen und hören wollen, solange wird der Homo narrans überleben – allen digitalen Verlockungen zum Trotz.
Das Buch lebt. Und mit ihm leben wir.
Sapere aude!
S. Noir
Der Freytag erscheint wöchentlich. Hört rein bei „buch.radio“ für tiefgehende Literaturgespräche und begleitet uns auf unserer gemeinsamen Reise durch die Welt der Bücher.