Über die Macht der Geschichten und warum wir unseren eigenen Narrativen misstrauen sollten
Die Bamberger Hegelwoche geht in den zweiten Abend, und wieder führt mich der Weg durch die schwüle Sommernacht zur ehrwürdigen Universität. Der erste Vortrag hat Spuren hinterlassen – jene philosophischen Fragezeichen, die sich wie kleine Angelhaken ins Bewusstsein setzen und nicht mehr loslassen. Professor Dr. Fritz Breithaupt von der Indiana University Bloomington steht heute auf der Bühne, ein Mann, der sich einem faszinierenden Paradoxon verschrieben hat: der emotionalen Verankerung unserer Lebensgeschichten.
„Was ist wichtiger für den Menschen, als sich kennenzulernen?“, fragt Breithaupt gleich zu Beginn. Eine rhetorische Frage, möchte man meinen, doch der Kognitionswissenschaftler und Germanist führt uns geschickt in ein Labyrinth, das komplexer ist, als es zunächst scheint. Unser Gehirn mag nur etwa zwei Prozent unseres Körpergewichts ausmachen, doch es verschlingt rund 20 Prozent unserer gesamten Energie – ein Verbrauch, der einer 20-Watt-Glühbirne entspricht und damit deutlich effizienter ist als jeder moderne Computer.
Doch wofür nutzt unser energiehungriges Denkorgan diese kostbare Energie? Breithaupt führt uns zurück zu den Ursprüngen: zum Lagerfeuer der Frühzeit. Dort, behauptet er, entstand nicht nur die Sprache, sondern auch etwas, was wir heute als den ersten „Klatsch“ bezeichnen würden. Nicht als Kommunikationsmittel der Männer am Lagerfeuer zum Erzählen ihrer Jagderlebnisse oder gar als Ausdruck mystischer, religiöser Riten, sondern als Mittel, die sozialen Bande innerhalb der Gruppe zu festigen – so formuliert es der Evolutionspsychologe Robin Dunbar, auf den sich Breithaupt stützt.
Die Menschen erzählten sich Geschichten von Interaktionen mit anderen Menschen. Und hier beginnt das eigentlich Erstaunliche: Etwa 75 Prozent dessen, was der Mensch täglich spricht, fällt unter die Kategorie Klatsch. Wir sind, wie Breithaupt es ausdrückt, zutiefst geschichtenerzählende Lebewesen – Homo narrans. Sprache entspringt dem sozialen Hintergrund und kreist um ihn. Sie ist ein Werkzeug zur Erkenntnisgewinnung, aber auch zur emotionalen Verbindung.
Was aber bleibt stabil, wenn Geschichten von Mund zu Mund wandern? Breithaupt hat in seinem Experimental Humanities Lab – dem ersten seiner Art – ein faszinierendes Experiment durchgeführt: Über Kausalität, Situation und die agierenden Charaktere hinaus sind vor allem Emotionen für das narrative Denken zentral und dienen als „Anker“, wenn es darum geht, eine Geschichte zu erinnern und wiederzugeben. Bei seinen Studien mit dem klassischen „Stille-Post-Verfahren“ – allerdings in einem bisher unerreichten Maßstab mit bis zu 20.000 Teilnehmern – zeigte sich: Das Kausale, das „Weil“, bleibt erhalten. Aber noch wichtiger: Die emotionale Wertigkeit am Beginn der Geschichte und an ihrem Ende wird zum Leitfaden für die Rekonstruktion der Geschichte.
Nicht was passiert, bleibt in unserer kollektiven Erinnerung bestehen. Es ist die Emotion – die Traurigkeit, die Freude, die Überraschung. Während faktische Details oft verändert wurden, blieb die emotionale Intensität einer Geschichte bemerkenswert konstant. Fakten werden zugunsten der Emotion verändert. Man spricht von narrativen Emotionen.
Warum hören wir Klatsch so gerne? Breithaupt liefert eine verblüffende Antwort: Die Emotionen sind die Belohnung für das narrative Denken. Narratives Denken wird stets mit spezifischen Emotionen belohnt, und das heißt: Wir leben, wie wir leben, weil wir diesen Belohnungsmustern folgen. Eine emotionale Belohnung erlaubt uns den Ausstieg aus dem narrativen Denken. Der Triumph am Ende einer Geschichte, die Genugtuung bei der folgenden Bestrafung des Bösewichts – das sind die Drogen, mit denen unser Gehirn uns bei der Stange hält.
Welchen evolutionären Vorteil bietet dieses narrative Denken? Die Funktion des Miterlebens ermöglicht das Weitergeben von Erfahrungen. Miterleben ist nichts anderes als Empathie. Alles, was ein Narrativ beendet, ist eine Emotion. Wenn jemand Ihnen eine Geschichte erzählt, fühlen Sie die Emotionen, die Spannung, die Angst – fast so, als wären Sie dort gewesen. Das ist ein wichtiger Grund, warum Geschichten für das Überleben der Menschen wesentlich waren.
Was bedeutet dies alles für die Wahrheit? Hier wird Breithaupts Vortrag besonders brisant. Wir nehmen das für wahr, was wir wahrnehmen. Doch unsere Wahrnehmung ist durch narrative Strukturen gefiltert. Wir sind Gefangene unserer eigenen Geschichten, ohne es zu merken. Besonders prekär wird es, wenn wir unseren eigenen Narrativen blind vertrauen.
Breithaupts zentrale Botschaft ist von erschreckender Aktualität: „Glaube deiner eigenen Wahrheit nicht.“ In einer Zeit, in der jeder seine eigene „alternative Realität“ zu haben scheint, in der Fake News und Verschwörungstheorien grassieren wie ein Virus, müssen wir eine gesunde Form der Skepsis wiederentdecken – oder vielleicht zum ersten Mal erlernen.
Dies ist keine Absage an das Erzählen. Im Gegenteil: Breithaupt zeigt uns, dass Geschichten notwendig sind für unser psychisches Überleben. Sie strukturieren unser Chaos, sie geben unserem Leben Sinn. Aber sie sind eben auch Konstrukte, emotionale Verdichtungen, die mehr über unsere Sehnsüchte und Ängste aussagen als über die rohen Fakten der Wirklichkeit.
Die Ironie ist perfekt: Während ich hier über narrative Täuschungen schreibe, konstruiere ich selbst ein Narrativ. Ich wähle aus, was mir wichtig erscheint, ich ordne Breithaupts Gedanken in eine Geschichte ein, die für mich – und hoffentlich auch für euch – Sinn ergibt. Auch diese Kolumne ist letztendlich eine „gefühlte Wahrheit“.
Die Lösung liegt nicht im Verzicht auf Geschichten – das wäre unmenschlich. Sie liegt in der Kultivierung einer wohlwollenden Skepsis gegenüber den eigenen Gewissheiten. In dem Bewusstsein, dass jede Geschichte, die wir uns über uns selbst und die Welt erzählen, eine Konstruktion ist. In der Bereitschaft, unsere Narrative zu hinterfragen, bevor sie uns hinterfragen.
Während ich die Aula verlasse, hallt Breithaupts Mahnung in mir nach. Morgen der dritte und letzte Abend: über algorithmische Wahrheiten. Von den gefühlten zu den berechneten – ein Bogen, der unsere Zeit wie kein anderer charakterisiert. Doch das ist eine andere Geschichte. Oder besser gesagt: ein anderes Narrativ, dem ich misstrauen sollte, bevor ich es erzähle.
Fortsetzung folgt.
Sapere aude!
S. Noir