Über Schillers «Jungfrau von Orleans» und die Aktualität des Heroischen
In einer Zeit, da wir täglich Zeugen werden, wie junge Menschen auf den Strassen von Teheran, Hongkong oder Minsk ihr Leben aufs Spiel setzen für eine Idee, die grösser ist als sie selbst, erscheint uns eine Gestalt aus dem fernen Mittelalter seltsam vertraut: Jeanne d’Arc. Ihre Geschichte – die einer Bauernmagd, die Gott hört und ein Reich rettet – wirkt in unseren säkularen Zeiten wie ein Märchen. Und doch: Wer genau hinhört, vernimmt in den Stimmen der heutigen Widerständler dasselbe Echo, das Friedrich Schiller vor mehr als zweihundert Jahren in seinem Drama «Die Jungfrau von Orleans» einfing.
Es war der 11. September 1801 – ein Datum, das heute andere, dunklere Assoziationen weckt –, als im Leipziger Nationaltheater der Vorhang sich hob für Schillers neuestes Werk. Die Premiere war ein Triumph, das Publikum begeistert. Doch was trieb den Dichter der Freiheit dazu, ausgerechnet jetzt, in den Wirren der napoleonischen Zeit, die Geschichte einer mittelalterlichen Heiligen auf die Bühne zu bringen?
Der Zeitgeist und seine Zweifel
Schiller schrieb seine «Jungfrau» in einer Epoche der Umbrüche. Die Französische Revolution hatte die alten Ordnungen erschüttert, Napoleon beherrschte Europa, und Deutschland suchte noch immer nach seiner nationalen Identität. In dieser Zeit der Orientierungslosigkeit griff Schiller zu einem Stoff, der auf den ersten Blick paradox erscheint: Er, der Aufklärer und Verfechter der Vernunft, wählte eine Gestalt, deren Handeln sich jeder rationalen Erklärung entzieht.
Doch gerade darin lag die Genialität seines Konzepts. Schiller erkannte, dass die reine Vernunft allein nicht ausreicht, um grosse historische Wendungen zu bewirken. Es braucht etwas mehr: den Glauben, die Leidenschaft, den unbedingten Willen zur Selbstaufopferung. In Jeanne d’Arc fand er die perfekte Verkörperung dieser Idee – eine Gestalt, die zugleich historisch verbürgt und mythisch überhöht war.
Die Entstehungsgeschichte des Dramas ist bezeichnend für Schillers Arbeitsweise. Während er an seinem «Wallenstein» noch um historische Genauigkeit gerungen hatte, ging er bei der «Jungfrau» bewusst einen anderen Weg. Er nannte sein Werk eine «romantische Tragödie» und signalisierte damit, dass es ihm nicht um historische Treue, sondern um poetische Wahrheit ging. Die reale Jeanne d’Arc war auf dem Scheiterhaufen gestorben – Schillers Jungfrau stirbt im Kampf, verklärt und erlöst. Diese Änderung war kein Zufall, sondern Programm.
Das Drama der Berufung
Schillers «Jungfrau von Orleans» ist ein Stück über Berufung und Bestimmung, über den Konflikt zwischen individueller Neigung und überpersönlicher Aufgabe. Johanna, die Heldin des Dramas, wird nicht nur vom englischen Feind bedrängt, sondern auch von ihren eigenen menschlichen Regungen. Der Höhepunkt des Stücks – ihre Begegnung mit dem englischen Feldherrn Lionel – zeigt sie als zerrissene Gestalt: Die von Gott Berufene wird zur liebenden Frau, und in diesem Moment menschlicher Schwäche liegt zugleich ihre grösste Stärke.
Es ist diese psychologische Durchdringung, die Schillers Version von unzähligen anderen Jeanne-d’Arc-Dramen unterscheidet. Seine Johanna ist keine schlichte Heilige, sondern eine komplexe Persönlichkeit, die um ihre Bestimmung ringt. Sie zweifelt, sie liebt, sie verzweifelt – und gerade dadurch wird sie zur wahrhaft tragischen Figur.
Die Sprache, in der Schiller seine Heldin sprechen lässt, ist von hinreissender Kraft. Wenn Johanna ihre Vision schildert oder zum Kampf aufruft, steigert sich die Diktion zu einer Intensität, die an die grossen Choräle der Antike erinnert. Gleichzeitig weiss Schiller aber auch die leiseren Töne anzuschlagen, etwa wenn Johanna von ihrer Heimat träumt oder ihre Liebe zu Lionel entdeckt.
Ein Triumph auf allen Bühnen
Die Uraufführung am Leipziger Nationaltheater war nur der Auftakt zu einem beispiellosen Erfolg. Das Stück eroberte in kürzester Zeit die deutschen Bühnen und blieb dort über Jahrzehnte hinweg ein Publikumsrenner. Die Zeitgenossen sahen in der «Jungfrau» nicht nur ein grosses Drama, sondern auch ein nationales Symbol – eine deutsche Antwort auf die französische Heldin.
Besonders die Rolle der Johanna wurde zur Traumrolle für Schauspielerinnen. Von Caroline Bauer bis zu Adele Sandrock, von Maria Fein bis zu Gustaf Gründgens‘ Johanna Hofer – jede Generation fand ihre eigene Interpretation der Schillerschen Heldin. Die Rolle verlangt alles von einer Schauspielerin: jugendliche Unschuld und kriegerische Entschlossenheit, visionäre Ekstase und menschliche Verletzlichkeit.
Die Aktualität des Heroischen
Heute wird Schillers «Jungfrau von Orleans» seltener gespielt als seine anderen grossen Dramen. Der Grund liegt auf der Hand: In unserer postheroischen Zeit wirkt die Gestalt der gottgesandten Kriegerin anachronistisch, ja geradezu verstörend. Wer heute von Visionen spricht und göttliche Aufträge reklamiert, macht sich verdächtig. Zu oft haben wir erlebt, wohin religiöser Fanatismus führen kann.
Und doch: Gerade diese Skepsis macht das Stück aktuell. Denn es stellt Fragen, die wir uns heute mehr denn je stellen müssen: Wann ist Widerstand gerechtfertigt? Wo liegt die Grenze zwischen Überzeugung und Fanatismus? Kann es Situationen geben, in denen das Individuum berechtigt ist, sich über die bestehende Ordnung zu stellen?
Die jungen Frauen, die heute in Iran ihre Kopftücher abnehmen und dabei ihr Leben riskieren, haben vielleicht nie von Jeanne d’Arc gehört. Aber sie handeln aus derselben unbedingten Überzeugung heraus, die Schillers Heldin antreibt. Sie folgen einer inneren Stimme, die stärker ist als die Furcht vor den Konsequenzen.
Das Vermächtnis einer Vision
Was Schillers «Jungfrau von Orleans» uns heute zu sagen hat, ist nicht die simple Botschaft, dass Gott auf unserer Seite steht. Es ist die komplexere Erkenntnis, dass es Momente in der Geschichte gibt, da gewöhnliche Menschen zu aussergewöhnlichen Taten berufen sind. Nicht weil sie heilig sind, sondern weil sie menschlich sind – mit allen Zweifeln, Ängsten und Schwächen, die dazugehören.
Die wahre Grösse von Schillers Drama liegt darin, dass es das Heroische nicht verherrlicht, sondern hinterfragt. Seine Johanna ist keine makellose Heilige, sondern eine zerrissene Gestalt, die zwischen Himmel und Erde gefangen ist. Sie zeigt uns, dass Heroismus nicht in der Abwesenheit von Angst besteht, sondern in der Fähigkeit, trotz der Angst zu handeln.
In einer Zeit, da uns täglich neue Katastrophen und Krisen begegnen, mag uns diese Botschaft verstörend erscheinen. Sie verlangt von uns, Verantwortung zu übernehmen, wo wir lieber wegschauen würden. Sie erinnert uns daran, dass Geschichte nicht nur von den Mächtigen gemacht wird, sondern auch von den scheinbar Ohnmächtigen – von jungen Frauen wie Jeanne d’Arc oder Mahsa Amini, deren Namen die Welt verändern, auch wenn sie selbst dabei zugrunde gehen.
Schillers «Jungfrau von Orleans» ist mehr als ein historisches Drama. Es ist ein Spiegel, der uns unsere eigene Zeit zeigt – mit all ihren Möglichkeiten und Versäumnissen. Und vielleicht ist das der Grund, warum wir es heute wieder spielen sollten: nicht als Museumsstück, sondern als Herausforderung.
Sapere aude!
S. Noir