Der Freytag: Tango auf der Deadline in Leipzig #lbm23

Ich sitze in Leipzig im Café und warte; trinke bereits den zweiten Cappuccino und Roberto ist immer noch nicht hier. Eigentlich drängt die Zeit. Unser gemeinsames Buchprojekt ist ins Stocken geraten – Roberto ist einfach den Tanz auf der Deadline nicht gewohnt; seine Nerven versagen immer, wenn es zeitlich eng wird und dann rebelliert sein Magen. Am Mittwoch hatte ich wieder eine Deadline; ich denke über meine vergangene Woche nach. Eine Lyrik sollte ich schreiben; über ein ganz bestimmtest Thema; frei in Verszahl und Form. Zeit war reichlich vorhanden – mehr als eine Woche blieb mir für das Gedicht. Im Normalfall fließen mir melodische Zeilen leicht aus dem Handgelenk. Mein Blick auf die Uhr: Roberto ist bereits seit 30 Minuten überfällig.

Das Handy piepst. Ich erhalte eine Nachricht von Maria; sie bedankt sich bei mir für die gelungene Lyrik. Will sie nur höflich sein oder meint sie es ernst? – Die Veröffentlichung wirds zeigen, denke ich mir. Wenn Maira wüsste, dass ich die Lyrik für das Magazin kaum zwei Stunden vor Abgabefrist schrieb; was würde sie dann wohl denken? Kaum jemand weiß, dass ich ein Tänzer bin; ich Tanze gern‘ Tango auf der Deadline. Den Tango Argentino auf dem Drahtseil. Mein Blick schweift im Cafe umher; hier sieht es aus wie im guten alten Buenos Aires; selbst die Bedienung wirkt südamerikanisch und ihr Blick ist tief melancholisch – ob sie auch den Deadline-Tango kennt? Sie bringt mir den dritten Cappuccino an den Tisch, ich bedanke mich mit: »Muchas gracias!« Sie erwidert: »De nada!« Also doch; Tango liegt in der Luft. Das Handy piepst erneut. Maria? Gefällt ihr die Lyrik doch nicht? Nein es ist Roberto; er schreibt: »bin gleich da. hatte einen unfall mit dem rad. bin gedankenlos gegen die staßenbahn geknallt. ist aber nicht so schlimm. komme gleich aus der notaufnahme zu dir ins cafe. mit dem taxi.« Also ist er diesmal Taxi-Driven, nicht Deadline-Driven, denke ich mir. Die Deadline unserers Teffens hat er bei weitem überschritten.

Ich denke an meine Studentenzeit. Studieren war im Prinzip ganz schön; nur immer diese Prüfungszeit am Ende des Semesters … Diese vier Wochen sind in jedem Semester ein Drahtseilakt gewesen und ungesund waren sie auch noch – der Kaffee- und Zigarettenkonsum wuchs ins Unermessliche: Täglich drei Packungen Zigaretten und dazu mindestens fünf Liter Kaffee in Kombination mit drei bis vier Stunden Schlaf pro Nacht; es war wie in einem Trancezustand. Wenn man Tango lange und intensiv tanzt, dann gleicht die Trance des Tangos dem der Prüfungszeit. Ich denke an Prof. Dr. Leiner. Ich schrieb bei ihm die letzte Klausur in einer meiner Prüfungszeiten – ich war der Einzige in seiner Klausur; wollte nach der Abgabe nur noch nach Hause und schlafen. Als ich meine Unterlagen auf seinen Tisch ablegte, sagte er: »Warten sie bitte hier, ich korrigiere schnell und gebe ihnen gleich das Ergebnis mit.« Ups, dachte ich und natürlich habe ich mich bei ihm bedankt und nahm sein »Angebot« mit einem: »Ja, sehr gerne« an. Was soll man darauf auch anderes antworten? Ich habe gewartet, bin dabei eingeschlafen; mit einem: »Sie haben bestenden« wieder aufgewacht. Zu Hause fiel ich ins Bett und schlief fast 24 Stunden durch.

Nach dem Erwachen fühlte ich mich wieder wie ein Mensch und hatte den Vorsatz gefasst: Im nächsten Semester bleibe ich kontinuierlich am Ball, bearbeite zeitnah den Vorlesungsstoff, damit die Prüfungszeit etwas normaler abläuft. Was soll ich sagen? Jeder, der studiert hat, weiß, was jetzt kommt. Nach den Semesterferien war wieder alles beim Alten und in der nächsten Prüfungszeit war logischerweise auch alles wieder beim Alten. Ich wurde zu einem sehr guten Deadline-Tango-Tänzer, bis heute.

Die Türe des Cafés öffnet sich; Roberto kommt zu mir an den Tisch; er schaut schlimm aus; hat ein Verband um den Kopf; er humpelt und hat zwei blaue Augen. Ich denke: Diesmal ist er nicht mit nur einem blauen Auge davon gekommen – jetzt stand hinter der Deadline eine Wand: die Wand der Straßenbahn. Aber natürlich sage ich ihm das nicht. Ich frage: »Wie geht es dir?« Nach seiner Antwort teile ich ihm in einem Nebensatz mit, dass ich mich bereits um die meisten Dinge gekümmert habe; er muss jetzt nur noch den Text redigieren, der vor ihm liegt. Das ich diesen Text in nur vier Stunden schrieb, verschweige ich ihm. – Er hätte vier Wochen Zeit für diesen Text gehabt. – Tango tanzen liegt nicht jedem. Ich bestelle noch einen Cappuccino und denke an die Studentenzeit zurück. Es haben sich nur zwei Dinge seit damals geändert: Erstens habe ich das Rauchen aufgegeben und zweitens trinke ich jetzt meinen Kaffee nur noch mit etwas Milch. ¡Salud!

Und jetzt ab zur Buchmesse. Mit dem Taxi natürlich; das Rad bleibt für heute stehen.

Fortsetzung folgt …

S.

Der Freytag: DerFreytag.de

PS: Zur Einstimmung: Carlos Di Sarli – 1954 – A la gran muñeca www.youtube.com/watch?v=coVy25CcPzA