Der Freytag: Ein Leben an der Mauer – Gedanken zum Tag der Deutschen Einheit

Deutsch-Deutsches Museum Mödlareuth – DDR Grenzbefestigung

Prolog

»Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!« Ein politisches Versprechen. Plötzlich stand sie da. Ganz schnell wurde aus dieser Unwahrheit von Parteichef Walter Ulbricht am 15. Juni 1961 ein in Beton gegossenes Faktum. Bereits zwei Monate nach Ulbrichts Aussage war Baubeginn. Ganze 28 Jahre stand die Mauer inmitten von Deutschland: Baubeginn 13. August 1961, Mauerfall 9. November 1989. Die Mauer, dieser Koloss aus Stein und Draht, forderte zahlreiche Menschenleben und brachte viel Leid und Not. Unzählige Dramen ereigneten sich an dieser Trennlinie; Familien wurden auseinandergerissen, Dörfer getrennt und mit knapp 1400 km durchschnitt sie ein ganzes Land und trennte in Ost und West. Trotz der abschreckenden Wirkung des Bollwerks und trotz der intensiven Gehirnwäsche durch das Regime gelang es nicht, die Bürger der DDR von der Überlegenheit des Ostens zu überzeugen: Viele wagten Fluchtversuche und versuchten ein Schlupfloch durch die Mauer zu finden; es gelang nur wenigen. Mindestens 140 Menschen starben an der Mauer (laut Angaben des Zentrums für zeithistorische Forschung (ZZF) und der Stiftung Berliner Mauer). Das letzte Maueropfer heißt Winfried Freudenberg; er starb am 8. März 1989 beim Absturz eines Ballons über West-Berlin. Der letzte DDR-Bürger, der beim Fluchtversuch erschossen wurde, heißt Chris Gueffroy; er wurde am 5. Februar 1989 in Berlin-Treptow von DDR-Grenztruppen erschossen.

Eine Kindheit an der Grenze

Die Geschichte von Axel beschreibt einen Blick auf die Zonengrenze; er wuchs auf Westseite als Sohn eines Bundesgrenzschutz-Beamten in der Grenzregion auf; er ist Zeitzeuge der Mauerjahre. Die Mauer zieht sich durchs Leben von Axel, so wie sie sich bis 1989 durch Deutschland zog. Untrennbar ist sein Leben mit ihr verbunden. Axel spielte häufig mit seinen Freunden in der Natur. In den 80ern waren die Kinderzimmer noch nicht so technisch hochgerüstet wie heute. Er ging oft mit seinen Freunden in die nahegelegen Wälder. Durch einem der Wälder verlief ein Stück innerdeutsche Grenze; er und seine Freunde integrierten häufig beim Spielen die nahegelegen Beobachtungstürme der Grenztruppen der DDR. Sie spielten mit den Feldstechern der Väter und Opas, ausspionieren; alle Aktivitäten an der Grenze und besonders die der Wachleute auf den Türmen wurden ausgekundschaftet. Sie malten sich die wildesten Geschichten aus; wie sie als Elitesoldaten die Türme überfallen oder sie sinnierten darüber nach, wie es wäre, wenn sie selbst auf der anderen Seite der Mauer lebten. Ab und an tauchten andere Kinder auf der anderen Seite hinter dem Stacheldrahtverhau auf; in diesen Augenblicken übermannte Axel eine innere Beklemmung; er sah die Freudlosigkeit der Ost-Kinder deutlich durch sein Fernglas und wurde selbst sehr traurig. Manchmal riefen sie in den Osten hinüber und hofften auf eine Reaktion vergeblich. Auch die Grenztruppen selbst antworteten nie auf ihre Zurufe.

Über die Transitstrecke nach Berlin

Als Axel älter wurde, war die Mauer immer noch da. Es gab kaum Veränderungen in seinem Heimat-Grenzabschnitt. Der Pate von Axel fand eine Freundin in Westberlin und zog zu ihr. Eines Tages fuhr die gesamte Familie zum Paten über die Transitautobahn durch die DDR nach West-Berlin; es war ein seltsames Gefühl. Die Trabis und Wartburgs fuhren schneller als Axels Vater und überholten ständig; sie blickten manchmal triumphierend in das West-Auto hinüber – der kleine Sieg des Sozialismus? Der Vater war jedoch sehr konzentriert und angespannt: bloß nicht zu schnell fahren, nicht auffallen. 100 km/h waren erlaubt, mehr nicht. Die Fahrt war bedrückend; es war ein Durchrütteln auf den Betonplatten; die Fahrt durch die DDR erschien unendlich lange. Ein unerlaubtes Verlassen der Autobahn war strikt verboten – es drohten hohe Strafen bei Missachtung. Eine Rast war nur an den Transitstätten erlaubt und genau dort trafen auch Ost und West aufeinander und die Stasi war an diesen Orten allgegenwärtig. Es war die Straße der Schikanen und besonders an den Grenzübergängen spürte Axel deutlich, dass jeder Wessi verdächtig war. Auf der Rückfahrt musste Axel ganz dringend austreten; am Grenzübergang angekommen bildete sich eine lange Auto-Schlange bei den Kontrollen. Die Minuten wurden zu Stunden; er konnte aber nicht raus aus dem Wagen, sie standen noch in der Abfertigungsschlange auf Ostseite. Die ganze Familie bangte mit Axel; das Gefühl von Freiheit und Erleichterung, als alle wieder im Westen angekommen waren und auf dem nächsten Parkplatz raus fuhren, ist bis heute unvergesslich.

9.11.1989 Ein Geburtstag und der Mauerfall

Die Felder und Wälder waren leicht vom Schnee bedeckt; es war der Geburtstag der Tante und die Familie saß bei Kaffee und Kuchen beisammen. Es lag bereits in der Luft, was in der folgenden Nacht in die Geschichtsbücher einging: In der Nacht vom Donnerstag 9.11.89 auf den 10.11.89 fiel die Mauer; sie wurde zuerst geöffnet; später vollständig demontiert. Axel kann sich noch gut an diesen Tag erinnern. Nach dem Kaffeetrinken fuhr die gesamte Familie zur Grenze. Es wurde viel gemunkelt; die Öffnung lag förmlich in der Luft; aber es war noch nicht offiziell. Als die gesamte Kaffeegesellschaft an der Grenze ankam, sahen sie, was sich Axel bereits als Kind immer sehnlichst gewünscht hatte: Diesseits und jenseits der Mauer standen sich alle Menschen – Ost und West – winkend und rufend gegenüber; es waren noch sehr langsame, aber herzliche Schritte der Annäherung. Eine freudige Aufbruchsstimmung lag in der Luft. Alle hatten Tränen in den Augen. Man kann sich diese Zeit nur sehr schwer vorstellen, wenn man sie nicht selbst miterlebt hat; die Zeit der Öffnung – es lag Freiheit und Frieden in der Luft.

Epilog

Am 3. Oktober feiern wir den Tag der Deutschen Einheit; damals lag Frieden in der Luft; Deutschland ging in Europa mit weisen Schritten voran und festigte den Frieden zwischen Ost und West. Jetzt – 34 Jahre nach dem Fall der Mauer – haben wir das hohe Ideal Frieden wieder ein großes Stück von uns weggeschoben. Es wird nicht mehr über Frieden gesprochen – man mag fast glauben, dass dieses Wort verpönt ist. Verhandlungen sind scheinbar keine Option mehr und eine Diplomatie der Annäherung rückt Stück für Stück in weite Ferne. »Lieber 100 Stunden umsonst verhandeln, als eine Minute schießen.« (Helmut Schmidt). – Und so langsam geht ganz Europa die Munition aus.

Fortsetzung folgt …

S.

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