Der Freytag: Ein Plädoyer für das Semikolon

Semikolon

Ein Hoch auf das Semikolon; ich liebe es; es trennt schärfer als ein Komma, aber schwächer als der Punkt; es gleicht dem Zeitgeist – es ist unverbindlicher, unkonkreter. Es lässt den Leser innehalten; aber trennt ihn nicht so abrupt vom Text ab wie der Punkt. Es lockert typografisch auf; es verfeinert stilistisch. Die Duden-Definition für das Semikolon lautet: »Das Semikolon, auch Strichpunkt genannt, nimmt zwischen Komma und Punkt eine Mittelstellung ein: Trennt ein Komma zu schwach ein Punkt, aber zu stark, kann ein Semikolon gesetzt werden. Da sich nicht eindeutig festlegen lässt, wann dies der Fall ist, liegt die Setzung eines Semikolons weitgehend im Ermessen des Schreibenden.« Besonders gefällt mir der Passus: Liegt die Setzung eines Semikolons weitgehend im Ermessen des Schreibenden. – Den freigeistigen Dichter und Denker in meiner Seele lädt dieser Abschnitt geradezu ein, das Semikolon zu verwenden.

Dass die Orthographie nicht jedermanns Sache ist, wissen wir. – Meine oft auch nicht: Deutsch ist keine leichte und einfache Sprache. Und dass der Kenntnisstand seit Jahren rapide sinkt, ein immer schlechteres Deutsch geschrieben und vor allem auch gesprochen wird, erleben wir alle tagtäglich. Es wird sprachlich und orthographisch immer »freier« und nach Gefühl geschrieben. Die PISA-Studien lassen aufhorchen. Ein noch wilderes Bild zeigt sich uns, wenn wir auf das Schlachtfeld der Interpunktion blicken – Satzzeichen werden nach Gehör und Gefühl gesetzt und Gefühle können täuschen, wie wir wissen. Da kommt uns doch der Passus: Liegt die Setzung eines Semikolons weitgehend im Ermessen des Schreibenden sehr gelegen; denn das Semikolon hätte die Kraft, das Schlachtfeld der Interpunktion zu befrieden. Zumindest hier gäbe es ein syntaktisches Mittel zur Selbsthilfe für Fehlervermeidung – vielleicht sogar das Allheilmittel, um die vielen Kommata-Klippen sicher zu umschiffen.

Als Dichter genießt man in der Regel sowieso einen höheren Freiheitsgrad als der Normal-Schreibende. In den vergangenen Tagen schrieb ich diese Lyrik:

das herz in einer anderen welt
der körper gefangen im hier und jetzt
die orthographie wurde abgeschafft
wozu auch noch schreiben?
gesetzlosigkeit wird belohnt
treulosigkeit ausgezeichnet
mutlosigkeit bleibt ungestraft
es war die nacht vor dem ende

s.

Die Kurzlyrik hat nur zwei Satzzeichen: ein Fragezeichen und einen Punkt. Kein Semikolon – es passte einfach nicht. Und in diesem lyrischen Fall hatte ich auch nicht vor, Schlachtfelder zu befrieden; meine Intention ist, die Menschen auf ihren inneren Schlachtfelder wachzurütteln, zum Nachdenken anzuregen; denn viel zu viele haben bereits in ihrem Inneren die Kriegsrüstung angelegt und sind bereit zum Kampf. – Wenn sich die Welt nicht langsam besinnt, wieder zur Vernunft und Mitmenschlichkeit zurückfindet, werden die Schlachtfelder noch explosiver, als sie jetzt schon sind. Ukraine und jetzt der Nahe Osten: eine sehr brisante und explosive Lage. Alle möglichen und unmöglichen Kriegsgerätschaften und Soldaten vieler Länder sind bereits vor Ort: Amerikaner, Türken, Russen, Chinesen …

Ich stelle mir gerade als einen symbolischen Akt vor, dass Bomberstaffeln mit bedrucktem Papier in ihren Bomberschächten über alle Großstädte der Welt hinwegfliegen und ihre Fracht: Wurfzettel mit Semikolons bedruckt abwerfen. Vielleicht ein Kunstprojekt à la Christo; nur größer und notwendiger? Die Botschaft müsste in allen Sozialen Netzwerken verteilt werden: Nutzt die Semikolons; setzt ein Zeichen für den Frieden! Die Semikolons befrieden die Welt und die Menschen. – Ja, so ist das; man darf beim Schreibe alles denken, das Unmögliche, das Absurde, das Utopische schreiben – Utopien können die Welt verändern.

Fernab aller Utopien zurück zum Faktischen. Cicra im 15. Jahrhundert entstand der Begriff Semikolon. »Semi« stammt aus dem Lateinischen und bedeutet so viel wie halb; und »kolon« kommt aus dem Griechischen und man könnte es im Entferntesten mit Satzglied übersetzen. Das gefühlte Komma, das Semikolon – das ist meine eigene Definition. Die Griechen nutzten es in der Antike als Fragezeichen. Die Römer verwendeten es nach den Griechen weiter und etablierten seine heutige Bedeutung. So ist es zum Trenner geworden; schwächer als ein Punkt und stärker als das Komma: das Semikolon. Früher habe ich das Semikolon gemieden. Ich wusste einfach nicht, wie und wann ich es hätte verwenden sollen. Ich fand es überflüssig. Doch seit circa zwei Jahren schreibe ich vermehrt prosaische Texte und seit diesem Wandel von ausschließlich Lyrik zu mehr und mehr Prosa habe ich dieses Satzzeichen lieb gewonnen und verwende es. So ganz überflüssig, wie ich damals dachte, dass es sei, war es auch damals nicht gewesen; denn viele Programmiersprachen nutzen als Zeilenabschluss das Semikolon und viele technische Dinge würden, wenn das Semikolon schlagartig fehlen würde, nicht mehr funktionieren. Auch dieser PC, an dem ich soeben schreibe, würde ad hoc nicht mehr laufen. Doch dank des Semikolons werdet ihr auch heute und beim nächsten Mal wieder lesen:

Fortsetzung folgt …

S.

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