Der Freytag: Usedom – ein Kaffee an der Küste

Kaffeetrinken verbindet die Welt mit unserem Innersten. Still und andächtig, in Gedanken versunken, schimmert mir meine Erinnerung auf der Oberfläche der braunen Köstlichkeit über alle Zeiten hinweg ins Diesseits herüber.

Das Meer lag still im Abendlicht. Die Welt schien uns wohlgesinnt. Je weiter man nach Norden kam, zur Ostsee, desto mehr verschwammen die Grenzen zwischen Realität und Poesie. Der Glanz der alten Zeit war überall auf der Insel. Die Architektur an der Waterkant erinnerte still daran, wie es gewesen war, als der Kaiser zur Sommerfrische kam. Mein Herz blickte sehnsüchtig zurück und wollte in die Vergangenheit fliehen. Doch der Kummer, im Hier und Jetzt gefangen zu sein, war gering. Der Blick auf die alten Fassaden, das Rufen der Möwen und der blaue Himmel ließen schnell vergessen. Die Leichtigkeit des Seins tröstete über die Gegenwart hinweg.

Berlin war nicht weit, doch es verschwand hinter einer Wand des Vergessens, je länger ich auf der Insel verweilte und die Nähe zur Ostsee spürte. Das Rauschen der See brachte mein inneres Metronom in eine langsame, harmonische Schwingung. Das Wirkliche wurde fremd, das Vage zur Realität. Menschen zogen an meinem Tisch vorüber. Sie spielten ihre Rollen in einer endlosen Aufführung. Komödie, Drama, Tragödie – alles war dabei. Mit diesen kleinen Mosaiken füllte ich meine innere Bibliothek.

Der Tag verging schnell. Eben noch beim morgendlichen Kaffee, beobachtend, essend, lebend und lachend, und schon dämmerte es erneut, die klare Nacht brach an. Die Nächte an der Küste waren rein und belebend, wenn die frische Brise vom Meer aufs Land traf. Der Ruf der Pflicht holte mich aus der Leichtigkeit des Ungezwungenen. Zehn Seiten hatte ich heute geschrieben. Die Novelle nahm Form an: Die Figuren lebten. Der Rausch des Schreibens war wie ein Feuerwerk, wenn die Worte flossen. Hier an der See, mit dieser Vertrautheit und Verbundenheit, schwebte der Füller und füllte Blatt für Blatt. Ahlbeck wurde zur zweiten Heimat. Die alte Heimat wurde fremder.

Ich rief den Ober und bezahlte. Nur Augenblicke trennten mich von Berlin und der Hektik des Lebens, aber sie reichten aus, um das Bekannte fremd erscheinen zu lassen. Im September war mir die Gegend am liebsten. Kein anderer Monat stand so für eine Rückschau wie dieser Herbstmonat. Die Touristen waren fort, ihre Erinnerungen verblassten. Der Nebel des Vergessens umhüllte ihre Urlaubserinnerungen. An vielen Orten prägen die Menschen die Gegend. Hier an der Küste war es anders. Egal wie stark der Charakter, Usedom veränderte jeden – früher oder später. Die See schleift nicht nur den Sand, sie schleift auch an der Seele der Menschen. Sie macht sie feiner, sensibler und demütiger gegenüber der Natur.

Ich stand auf und ging meiner Wege.

S.

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Kaffee an der Küste