Abschied von einem Reißzahn
Am 16. Juli 2025 ist in Berlin-Köpenick ein Mann gestorben, der das deutschsprachige Theater wie kaum ein anderer geprägt hat. Claus Peymann wurde 88 Jahre alt. Für viele meiner Generation war er mehr als nur ein Intendant – er war eine Ikone, ein Störenfried, ein Kämpfer gegen die Selbstgefälligkeit der Macht. Sein Tod reiht sich ein in eine Liste von Verlusten, die mir schmerzlich bewusst macht, wie die prägenden Figuren meiner kulturellen Sozialisation eine nach der anderen von der Bühne des Lebens abtreten.
Wie ich Peymann begegnete
Meine erste bewusste Begegnung mit Claus Peymann fand nicht in einem Theater statt, sondern vor einem Bildschirm. Es war jener denkwürdige Videobeitrag im Format „Café Brandstätter“, in dem Harald Schmidt mit dem Theatermacher über Thomas Bernhard sprach – und über das Essen. Diese ungewöhnliche Konstellation zwischen dem scharfzüngigen Entertainer und dem unbeugsamen Regisseur, vereint in ihrer Liebe zu Thomas Bernhard, faszinierte mich sofort.
Das Gespräch führte mich zu Harald Schmidts Buch „In der Frittatensuppe feiert die Provinz ihre Triumphe: Thomas Bernhard. Eine kulinarische Spurensuche mit Harald Schmidt“. Ein Werk, das Literatur und Gastronomie auf so originelle Weise verbindet, dass man beim Lesen gleichzeitig Appetit auf Schnitzel und auf Bernhard’sche Tiraden bekommt.
Diese mediale Begegnung motivierte mich, tiefer in die Welt Thomas Bernhards einzutauchen. Ich reiste nach Wien, saß im Café Bräunerhof nahe dem Stammplatz des Autors und spürte die Atmosphäre jener Stadt nach, die Bernhard so inbrünstig liebte und hasste. Die Verbindung zwischen Literatur, Ort und den Menschen, die diese Literatur auf die Bühne brachten, wurde für mich zu einem lebendigen Geflecht kultureller Erfahrung.
Der schwindende Zirkel der Idole
Nun ist auch Claus Peymann von uns gegangen, und er reiht sich ein in jene schmerzliche Galerie verstorbener Persönlichkeiten, die mein intellektuelles und ästhetisches Koordinatensystem geprägt haben. Karl Lagerfeld, der Modeschöpfer, der Mode zu Kunst erhob. Peter Lindbergh, der Fotograf, der das Bild der Frau revolutionierte. Helmut Dietl, dessen unvollendete Autobiografie „A bissel was geht immer: Unvollendete Erinnerungen“ ich gerade lese – jenes postume Zeugnis eines Mannes, der mit „Monaco Franze“, „Kir Royal“ und „Schtonk!“ den bayerischen Humor ins nationale Bewusstsein katapultierte.
In der vergangenen Woche ging auch Peymann von uns. Kann man in meinem Alter überhaupt noch von „Idolen“ sprechen? Vielleicht ist es treffender, von kulturellen Leuchtfeuern zu reden, von Menschen, die einem halfen, die eigene Position in der Welt zu finden und zu schärfen.
„Reißzahn im Arsch der Mächtigen“
Dieses Zitat machte Peymann unsterblich, auch wenn er es später selbst relativierte. Die Entstehungsgeschichte ist bezeichnend für den Mann: Kurz vor dem Beginn der eigentlichen Arbeit in Berlin ließ ich mich in sommerlichem Übermut zu einem Interview mit der Boulevardzeitung B.Z. in New York verführen. Daraus wurde unerklärlicherweise im Laufe der Jahre „der Reißzahn im Arsch der Mächtigen“.
Als der Abschied vom BE nahte, sagte er in einem Gespräch mit Peter von Becker: „Aber natürlich war es ein Fehler, dass ich zu Beginn gesagt habe, ich wolle der Reißzahn im Fleisch der Berliner Republik sein.“
Mit diesem Zitat muss man ihn einfach lieben. Es fasst in vier Worten zusammen, was Peymann zeitlebens war: ein Störfaktor für alle, die es sich in den Sesseln der Macht bequem gemacht hatten. Als „Reißzahn im Arsch der Mächtigen“ trat er dort im einstigen Brecht-Theater am Schiffbauerdamm an, um das Berliner Ensemble von 1999 bis 2017 zu leiten.
Die legendäre Freundschaft mit Thomas Bernhard
Die wohl produktivste und faszinierendste Beziehung in Peymanns Laufbahn war die zu Thomas Bernhard. Mehr als drei Jahrzehnte verband die beiden eine Arbeitsfreundschaft, die das deutschsprachige Theater nachhaltig prägte. Uraufführungen zeitgenössischer Autoren wie Thomas Bernhard, Peter Handke oder Peter Turrini, später auch Elfriede Jelinek, bildeten für Peymann von jeher einen Schwerpunkt seiner Arbeit.
Die Zusammenarbeit begann bereits in den frühen Siebzigern und führte zu legendären Uraufführungen: „Der Theatermacher“ (1985 in Koproduktion mit den Salzburger Festspielen), „Ritter, Dene, Voss“ (1986), und schließlich der skandalumwitterte „Heldenplatz“ (1988), der geradezu eine Staatskrise auslöste.
Besonders reizvoll ist, dass Bernhard seinem Regisseur ein literarisches Denkmal setzte: „Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit mir essen“ wurde eigens für Peymann geschrieben und gilt als besonderes Zeichen von Zuneigung eines Schriftstellers gegenüber seinem Theaterdirektor. In diesem Dramolett lässt Bernhard Peymann und Bernhard beim Essen über Hosen philosophieren – eine wunderbar absurde Szene, die die Vertrautheit zwischen beiden Männern illustriert.
Episoden einer produktiven Freundschaft
Die Anekdoten aus der Zusammenarbeit zwischen Peymann und Bernhard sind Legion. Die „Notlicht-Affäre“ („Der Ignorant und der Wahnsinnige“, Salzburger Festspiele 1972) versetzte in der Folge Regisseur wie Autor in kämpferische Alarmbereitschaft und entzündete „den ersten von vielen Theaterskandalen, den Bernhard entfachte und Peymann schürte“.
Spätestens nach dem Eklat in Salzburg „wusste Peymann, wo`s weh tat: da, wo Bernhard ist.“ Der inthronisierte Burgtheaterdirektor und sein literarischer Wegbereiter schworen sich auf eine spannende Theaterrevolte ein.
In Bernhards Dramolett über Peymanns Wechsel nach Wien zeigt sich die liebevoll-ironische Sicht des Autors auf seinen Regisseur: Im Bernhard-Dramolett „Claus Peymann verlässt Bochum und geht als Burgtheaterdirektor nach Wien“ packt „Fräulein Schneider“ akribisch Peymanns Koffer: „Ich schichte die Dramaturgen zuerst in den Koffer / Ihre Hemden lege ich sorgfältig darauf / Ihre WEIßE WESTE HERR PEYMANN ganz oben“.
Peymann machte Bernhard mit seinen Uraufführungen, unter anderem mit dem „Theatermacher“ (uraufgeführt 1985 bei den Salzburger Festspielen) regelmäßig als Dramatiker immer und immer wieder berühmt und berüchtigt; umgekehrt profitierte Peymann von den profunden, wortmächtigen Textvorlagen seines Arbeits- und also auch Geschäftsfreundes Thomas Bernhard.
Ein Leben zwischen Provokation und Kunst
Claus Peymann (* 7. Juni 1937 in Bremen als Klaus Eberhard Peymann; † 16. Juli 2025 in Berlin-Köpenick) war ein deutscher Theaterregisseur und bis zum 2. Juli 2017 Intendant, künstlerischer Leiter, Geschäftsführer und Alleingesellschafter des Berliner Ensembles. Seine Laufbahn war geprägt von künstlerischen Triumphen und politischen Skandalen.
Schon früh zeigte sich seine Bereitschaft zur Provokation: Eine Spendenaktion für den Zahnersatz der RAF-Terroristin Gudrun Ensslin wurde zum Skandal. Später wurde er scharf kritisiert, als er 2008 dem ehemaligen RAF-Terroristen Christian Klar ein Praktikum an seinem Theater anbot.
Doch diese politischen Kontroversen sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass Peymann vor allem eines war: ein Theatermacher von der Größe, die heute selten geworden ist. „Claus Peymann war eine der prägendsten Persönlichkeiten des modernen deutschen Theaters. Mit Engagement, Mut zur Auseinandersetzung und großer Leidenschaft für die Kunst hat er Berlins Kultur entscheidend mitgestaltet. Wir verlieren einen streitbaren Geist – und einen großen Theatermacher“, würdigte Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner.
Vermächtnis eines Unbeugsamen
Er nahm nie ein Blatt vor den Mund, wie es treffend in den Nachrufen heißt. „In meiner Gegenwart kann man sich nicht langweilen“, sagte Peymann einmal – und das stimmte. Wer ihn erlebte, begegnete einem Mann, der das Theater als Waffe gegen die Selbstzufriedenheit der Gesellschaft einsetzte.
„Wir verneigen uns vor einer großen Lebensleistung und trauern um Claus Peymann“, erklärte Kulturstaatsminister Wolfram Weimer. „Er war ein Titan des Theaters, ein Meister der Zumutung und Erneuerung – ein Regisseur, der die Bühne stets auch als Kampfschauplatz verstand: für Kunstfreiheit, Reibung, radikale Wahrhaftigkeit.“
Das Ende einer Ära
Im Juli 2025 starb Peymann nach langer Krankheit in Berlin-Köpenick. Mit ihm geht eine Ära zu Ende – die Ära der großen Theaterintendanten, die ihre Häuser wie Feldherren führten und die Bühne als politisches Statement begriffen.
Das Leben ist vergänglich, aber manche bleiben uns immer in Erinnerung, so auch Claus Peymann. Nicht nur wegen seiner Inszenierungen, nicht nur wegen seiner Skandale, sondern wegen seiner kompromisslosen Haltung, dass Kunst niemals neutral sein darf. In einer Zeit, in der das Theater oft zur bloßen Unterhaltung degeneriert, erinnert uns sein Vermächtnis daran, dass die Bühne ein Ort der Auseinandersetzung, der Reibung, der Zumutung sein muss.
Er war ein Reißzahn im Arsch der Mächtigen – und genau das braucht jede Gesellschaft, die sich nicht in Selbstgefälligkeit verlieren will. Möge sein Beispiel andere inspirieren, das Theater wieder zu dem zu machen, was es in seiner besten Zeit war: ein Ort, an dem die Welt nicht nur gespiegelt, sondern hinterfragt wird.
Ruhe in Frieden, Claus Peymann. Du warst einer der Großen.
Sapere aude!
S. Noir