Eine Wanderung durch Wagners Klanglandschaften und die Ewigkeit der Meistersinger
Am 25. Juli 2025 eröffneten die Bayreuther Festspiele mit einer Neuproduktion der „Meistersinger von Nürnberg“ unter Daniele Gatti und in der Inszenierung von Matthias Davids. Eine Reise zu den Quellen eines Werks, das zwischen Tradition und Revolution, zwischen deutschem Gemüt und universeller Kunst seinen eigenen Weg fand.
Es gibt Momente im Leben eines Kunstwerks, da scheint die Zeit stillzustehen, und aus der Vergangenheit spricht eine Gegenwart von erschreckender Aktualität. So erging es mir, als ich durch die stillen Straßen Marienbads wandelte, jenes böhmischen Kurortes, wo im Sommer 1845 Richard Wagner zum ersten Mal die Idee zu seinen „Meistersingern von Nürnberg“ ersann. Das kleine Städtchen, heute Mariánské Lázně, trägt noch immer den Zauber jener Epoche in sich, als die Kurgäste aus ganz Europa hierher pilgerten, um in den heilsamen Quellen Linderung für Körper und Seele zu finden.
Ich trank aus denselben Quellen, aus denen einst Goethe schöpfte, wandelte die Promenaden entlang, wo Richard Wagner mit seinem ersten Entwurf zu jenem Werk rang, das später zu seiner heitersten und zugleich tiefgründigsten Schöpfung werden sollte. Hier, in der Stille der böhmischen Wälder, inmitten einer Landschaft, die wie geschaffen scheint für die Kontemplation, begann jene zwanzigjährige Reise, die mit der Vollendung der „Meistersinger“ 1867 in Triebschen ihren Abschluss finden sollte.
Die lange Wanderschaft eines Werks
Die erste Skizze zur Oper verfasste Wagner 1845 bei einem Kuraufenthalt in Marienbad. Seine Absicht war, damit ein heiteres Gegenstück im Sinne eines Satyrspiels zum tragisch endenden Tannhäuser zu schaffen. Doch wie so oft bei Wagner sollte aus dem vermeintlich einfachen Projekt eine viel komplexere Angelegenheit werden. Wagner dachte erst im Herbst 1861 wieder an die Meistersinger, als ihn während eines Museumsbesuchs in Venedig ein Gemälde aus dem 16. Jahrhundert an die Welt der Meistersinger erinnerte.
Es war Tizians „Himmelfahrt Mariens“ in der Venezianischen Akademie, die den Komponisten zu seinem endgültigen Entschluss bewegte. In einem jener Momente der Eingebung, die das Schicksal großer Kunstwerke bestimmen, erkannte Wagner die Verwandtschaft zwischen der Renaissance-Kunst und seiner eigenen Vision einer Kunst, die Tradition und Erneuerung in sich vereint.
Die Jahre zwischen der ersten Marienbader Skizze und der Vollendung in Tribschen lesen sich wie ein Kompendium der europäischen Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts. Wagner, der Revolutionär von 1848, der Verbannte, der Liebesflüchtling, der Schuldner und schließlich der Protegé König Ludwigs II. – all diese Erfahrungen flossen in ein Werk ein, das oberflächlich betrachtet von mittelalterlichen Handwerkern und ihrer Sangeskunst erzählt, in Wahrheit aber eine universelle Parabel über das Wesen der Kunst und ihre Erneuerung darstellt.
Im Idyll von Tribschen
Von besonderer Bedeutung für die Vollendung der „Meistersinger“ war Wagners Zeit in Tribschen am Vierwaldstättersee. Am 15. April 1866 zog Richard Wagner in das Haus an der Tribschener Landzunge am Vierwaldstättersee ein. Dieses sein zweites Schweizer Asyl blieb bis 22. April 1872 der Hauptwohnsitz für ihn und seine wachsende Patchworkfamilie. Wenn ich durch den Park des Wagner-Museums wandle – zuletzt war ich im Sommer 2023 dort –, den Blick über den See zu den Bergen schweifen lasse, verstehe ich, warum dieser Ort für den Komponisten zur Quelle der Inspiration werden konnte.
In diesem Haus vollendete er die Meistersinger-Partitur, und man spürt noch heute die Atmosphäre konzentrierter schöpferischer Arbeit, die diesen Ort prägte. Tribschen war mehr als nur ein Refugium; es war der Ort, wo Wagner zur Ruhe kam und jene gelassene Heiterkeit fand, die den „Meistersingern“ ihren besonderen Charakter verleiht. Hier, fernab vom Münchener Hofklatsch und den politischen Wirren seiner Zeit, konnte er sich ganz seinem „bürgerlichen“ Stoff widmen, jenem Nürnberg des 16. Jahrhunderts, das ihm als Spiegel seiner eigenen Epoche diente.
Die Ironie der Geschichte will es, dass Wagner ausgerechnet in der Schweizer Abgeschiedenheit sein deutschestes Werk vollendete. Doch vielleicht bedurfte es gerade dieser Distanz, um die Essenz dessen zu destillieren, was er als „deutsch“ empfand – nicht die enge Nationalität, sondern jenen Geist der Erneuerung, der Tradition und Innovation zu versöhnen weiß.
Thomas Mann und die deutsche Seele der Musik
Thomas Mann, der große Wagnerianer und zugleich scharfsinnige Kritiker, erkannte in den „Meistersingern“ jene Ambivalenz, die das deutsche Wesen ausmacht. In seinem Essay „Leiden und Größe Richard Wagners“ schreibt er über die paradoxe Natur dieses Werks, das zugleich rückwärtsgewandt und revolutionär, volkstümlich und hochkünstlerisch ist. Mann sah in Hans Sachs die Verkörperung jenes deutschen Geistes, der zwischen Tradition und Fortschritt zu vermitteln sucht – eine Figur, die in ihrer Weisheit und Melancholie durchaus autobiographische Züge Wagners trägt.
Diese Vielschichtigkeit macht die „Meistersinger“ zu einem Werk von zeitloser Aktualität. Während andere Wagner-Opern in mythischen Sphären schweben, spielen die „Meistersinger“ auf dem Boden einer historisch konkreten Realität und sprechen dennoch von universellen Wahrheiten: vom Konflikt zwischen erstarrter Tradition und lebendiger Innovation, von der Macht der Kunst, Gegensätze zu versöhnen, und von der Liebe als verwandelnder Kraft.
Leitmotive als musikalische Architektur
Wagners revolutionäre Leitmotivtechnik erreicht in den „Meistersingern“ eine besondere Reife. Anders als im „Ring“ oder „Tristan“, wo die Motive oft wie psychologische Röntgenaufnahmen wirken, entwickelt Wagner hier ein System von Themen, das eher an ein kunstvoll gefügtes Gebäude erinnert. Das Meistersinger-Motiv, mit dem das Vorspiel eröffnet, steht für die Tradition der Zunft; das Walther-Motiv verkörpert jugendliche Innovation; das Sachs-Motiv schließlich repräsentiert die weise Vermittlung zwischen beiden Polen.
Diese motivische Architektur spiegelt die dramaturgische Struktur des Werks wider: Wagner lässt nicht einfach Tradition gegen Moderne kämpfen, sondern zeigt, wie aus der kreativen Auseinandersetzung mit der Überlieferung Neues entstehen kann. Walthers Preislied im dritten Akt ist nicht die Zerstörung der Meistersingerkunst, sondern ihre Erneuerung von innen heraus.
Daniele Gatti: Ein Italiener als Wagner-Interpret
Dass die 113. Bayreuther Festspiele am 25. Juli 2025 mit einer Neuproduktion der „Meistersinger von Nürnberg“ eröffnen werden, ist symbolträchtig. Daniele Gatti, seit der Saison 2024/25 Chefdirigent der Sächsischen Staatskapelle Dresden, übernimmt die musikalische Leitung. Der 1961 in Mailand geborene Dirigent bringt eine bemerkenswerte Wagner-Erfahrung mit: Von 2008 bis 2011 hatte er bereits die musikalische Leitung von „Parsifal“ bei den Bayreuther Festspielen inne und gehört zu den wenigen italienischen Dirigenten, die regelmäßig zu den Wagner-Festspielen eingeladen werden.
Gattis Interpretation verspricht eine besondere Sichtweise auf die „Meistersinger“. Als Italiener bringt er eine andere Herangehensweise an Wagners Musikdrama mit – weniger belastet von der deutschen Rezeptionsgeschichte, dafür sensibler für die rein musikalischen Qualitäten des Werks. Seine Erfahrung mit dem italienischen Opernrepertoire könnte den „Meistersingern“ jene Leichtigkeit verleihen, die Wagner ursprünglich angestrebt hatte, bevor das Werk unter dem Gewicht seiner kulturpolitischen Deutungen zu leiden begann.
Matthias Davids: Der Musical-Experte erobert Bayreuth
Matthias Davids, der vor allem durch seine Musical-Inszenierungen bekannt geworden ist, übernimmt die Regie der Eröffnungsproduktion. Seine Frage lautet: „Darf man bei Wagner auch lachen?“ Die Meistersinger sind ja als komische Oper tituliert, und wir untersuchen die Form der Komik, die in dieser Oper steckt.
Diese Herangehensweise ist erfrischend und mutig zugleich. Davids, der seit Dezember 2012 Künstlerischer Leiter der Sparte Musical am Landestheater Linz ist, bringt eine Erfahrung mit, die in Bayreuth eher selten ist: die Kunst, ein Publikum zu unterhalten, ohne dabei trivial zu werden. Seine Inszenierung könnte den „Meistersingern“ jene ursprüngliche Heiterkeit zurückgeben, die unter Schichten ideologischer Überfrachtung verschüttet wurde.
Der Regisseur betont die handwerkliche Dimension der Meistersingerkunst und ihre Verwandtschaft zum Musical als Gebrauchskunst. „Durch meinen Werdegang bin ich dem Genre Musical sehr verbunden, weil ich dieses Genre interessant finde, aktuell und vielfältig. Man hat mit Schauspiel, Tanz und Gesang, mit all diesen Elementen zu tun.“
Die Aktualität der Meistersinger
Was können wir heute von Wagners „Meistersingern“ lernen? In einer Zeit, da überall von Tradition und Innovation, von kultureller Identität und globaler Vernetzung die Rede ist, wirkt das Werk wie eine Blaupause für den Umgang mit kulturellem Wandel. Hans Sachs zeigt uns, wie man Tradition bewahren kann, ohne sie zu mumifizieren, wie man Innovation fördern kann, ohne die Wurzeln zu kappen.
Die Meistersinger-Zunft mit ihren Regeln und Traditionen steht stellvertretend für alle kulturellen Institutionen, die sich der Herausforderung der Erneuerung stellen müssen. Walther von Stolzing verkörpert den kreativen Außenseiter, der das System von innen heraus verwandelt. Und Sixtus Beckmesser – oft als Karikatur des pedantischen Kritikers gedeutet – repräsentiert jene Haltung, die Regeln für wichtiger hält als den Geist, der sie einst beseelte.
Bayreuth als Erfahrung der Entrückung
Meine eigenen Bayreuth-Erfahrungen – Parsifal (2019), die Meistersinger von Nürnberg (2018), den Holländer (2018 und 2014), Tristan und Isolde (2011) und den Tannhäuser (2023) – haben mich gelehrt, dass dieser Ort mehr ist als nur ein Opernhaus. Es ist ein Tempel der Entschleunigung, wo die Zeit anders vergeht als in der profanen Welt.
Besonders eindringlich war die Erfahrung des kompletten Ring-Zyklus 2022. Vier Abende und ein Pausentag – diese fünf Tage katapultierten mich in einen Zustand zwischen Erschöpfung und Ekstase, in jenes „Zwischenweltliche“, das Wagner in seinen reifsten Werken beschwört. Ein Tag mehr, und ich hätte tatsächlich nicht mehr zu dieser Welt gehört. So intensiv ist die Erfahrung, sich ganz in Wagners Klangkosmos zu versenken.
Diese Intensität prägt auch die gesellschaftliche Dimension der Festspiele. Zur diesjährigen Eröffnung werden zahlreiche prominente Gäste erwartet, darunter Bundeskanzler Friedrich Merz, Bundestagspräsidentin Julia Klöckner und viele andere aus Politik und Kultur. Die Bayreuther Festspiele sind nach wie vor ein gesellschaftliches Ereignis, das weit über die Musikwelt hinausstrahlt.
Bemerkenswert ist, welche Politiker sich als Wagnerianer bekennen oder zumindest regelmäßig nach Bayreuth pilgern. Angela Merkel war zu ihrer Zeit als Bundeskanzlerin und auch in den Jahren danach gerne in Bayreuth zu den Richard Wagner Festspielen zu Gast und gilt als Anhängerin von Wagners Opern. Diese Kontinuität zeigt, dass Wagner noch immer als kultureller Referenzpunkt fungiert, auch wenn seine politische Instrumentalisierung der Vergangenheit angehört.
Zwischen Tradition und Provokation
Die heutige Wagner-Rezeption bewegt sich in einem Spannungsfeld zwischen historischer Verantwortung und künstlerischer Freiheit. Die „Meistersinger“, einst missbraucht als Fanfare deutscher Überheblichkeit, haben ihre Unschuld verloren und müssen sich neu erfinden. Doch gerade darin liegt ihre Chance: Befreit von ideologischen Hypotheken können sie zu dem werden, was sie ursprünglich waren – ein Plädoyer für die Kunst als Vermittlerin zwischen den Zeiten.
Davids‘ Ansatz, die Komik des Werks ernst zu nehmen, könnte der Schlüssel zu einer neuen Lesart sein. Lachen befreit, und vielleicht brauchen die „Meistersinger“ gerade diese Befreiung von ihrer eigenen Schwere. Wenn Wagner selbst sein Werk als „heiteres Gegenstück“ zum „Tannhäuser“ konzipierte, warum sollten wir es nicht wieder als das nehmen, was es ist: eine Komödie über die Liebe, die Kunst und die Torheiten der Menschen?
Die ewige Wiederkehr des Schönen
In einer Zeit der kulturellen Umbrüche und digitalen Revolutionen wirken die „Meistersinger“ wie ein Anker der Kontinuität. Sie erinnern uns daran, dass jede Generation ihre eigene Art finden muss, das Erbe der Vergangenheit in die Zukunft zu tragen. Hans Sachs‘ Verzicht auf Eva zugunsten des jungen Walther ist nicht nur ein Akt der Entsagung, sondern auch ein Akt der Weisheit: Er erkennt, dass die Zeit der Alten vorbei ist und dass das Leben seinen eigenen Weg gehen muss.
Wenn am 25. Juli der Vorhang im Bayreuther Festspielhaus aufgeht und Daniele Gatti den ersten Akkord des Meistersinger-Vorspiels erklingen lässt, dann wird wieder einmal jene Magie spürbar, die Wagner vor 180 Jahren in Marienbad zu erträumen begann. Es ist die Magie der Kunst, die alle Zeiten überbrückt und in jedem Moment neu entstehen kann.
Die „Meistersinger von Nürnberg“ sind Wagners Geschenk an eine Welt, die zwischen Tradition und Fortschritt, zwischen Lokalem und Universalem ihren Weg sucht. In ihnen erklingt nicht nur die Musik einer vergangenen Epoche, sondern die zeitlose Melodie menschlicher Hoffnung. Und vielleicht ist das der Grund, warum wir Jahr für Jahr nach Bayreuth pilgern: um uns daran zu erinnern, dass die Kunst das Versprechen einer besseren Welt in sich trägt – einer Welt, in der Schönheit und Wahrheit, Liebe und Weisheit einander nicht ausschließen, sondern in einem großen Chor zusammenklingen.
Sapere aude!
S. Noir
Die Bayreuther Festspiele 2025 wurden am 25. Juli mit der Neuproduktion der „Meistersinger von Nürnberg“ eröffnet. Musikalische Leitung: Daniele Gatti. Regie: Matthias Davids. Weitere Informationen unter bayreuther-festspiele.de