Über die Sehnsucht nach dem Ort, wo die Seele ruht
Ich sitze am Rhein. Bonn, ein Septemberabend, das Wasser trägt den Herbste herbei, und in mir steigt ein Gefühl auf, das so alt ist wie die Menschheit selbst: Heimat. Es ist ein seltsames Wort, dieses «Heimat» – schwer zu greifen wie ein Morgennebel über dem Strom, und doch von einer Präzision, die jeder Deutschen sofort versteht. Hier, wo ich von 2009 bis 2015 lebte, wo ich zum ersten Mal begriff, was es heisst, reif zu werden, hier spüre ich es wieder: jenes unbeschreibliche Gefühl, angekommen zu sein.
Aber was ist das eigentlich – Heimat? Eine Frage, die Philosophen, Dichter und Denker seit Jahrhunderten beschäftigt und die heute, in Zeiten globaler Mobilität und digitaler Entwurzelung, aktueller denn je erscheint.
Die Stimmen der Suchenden
«Die Heimat ist nicht da oder dort. Die Heimat ist innen oder nirgends», notierte einst Hermann Hesse in seinem Tagebuch. Der Dichter des «Steppenwolfs» wusste, wovon er sprach. Geboren in Calw im Schwarzwald, verschlug es ihn über die Schweiz nach Indien, und immer war er auf der Suche nach jenem inneren Ort, an dem die Seele Ruhe findet. Seine Heimat war letztlich nicht geografisch, sondern spirituell – ein Zustand des Einklangs mit sich selbst.
Ganz anders Heinrich Heine, der grosse Ironiker der deutschen Literatur. «Denk ich an Deutschland in der Nacht, so bin ich um den Schlaf gebracht», dichtete er im Pariser Exil, fernab von seinem geliebten Düsseldorf. Heine kannte das Paradox der Heimat: Sie wird oft erst in der Ferne spürbar, verwandelt sich in Sehnsucht, in einen Schmerz, der zugleich süss und bitter ist. Seine Heimat war die deutsche Sprache selbst – ein bewegliches Vaterland, das er überallhin mitnehmen konnte.
Theodor Storm, der Husumer Dichter der «Schimmelreiter»-Novelle, hingegen blieb seiner nordfriesischen Heimat zeitlebens treu verbunden. «Das war der Tag, an dem ich zu leben begann», schrieb er über seine Rückkehr nach Husum, nachdem ihn berufliche Verpflichtungen zunächst nach Potsdam geführt hatten. Storm verstand Heimat als Verwurzelung – in der Landschaft, in den Menschen, in den Geschichten, die ein Ort erzählt.
Und da ist Thomas Mann, der Lübecker Patrizier, der in seinem «Zauberberg» die Heimatlosigkeit des modernen Menschen durchbuchstabierte. Für ihn war Heimat zunächst das Bürgertum der Hansestadt, später im amerikanischen Exil wurde sie zur Erinnerung, zu einer verlorenen Welt, die nur noch in der Literatur existierte. «Wo ich bin, ist Deutschland», sagte Mann trotzig – ein Satz, der zeigt, wie sehr er unter der Entwurzelung litt.
Die Archäologie eines Gefühls
Woher kommt dieses seltsame Wort «Heimat», das andere Sprachen nur umständlich umschreiben können? Die Etymologie führt uns ins Mittelhochdeutsche: «heimuot» bedeutete ursprünglich schlicht «vertrauter Ort». Das Wort ist verwandt mit «Heim» – vom indogermanischen «tkei-», was «wohnen, sich niederlassen» bedeutet. Interessant ist die Verwandtschaft mit dem englischen «home» und dem lateinischen «civis» – alles Wörter, die das Sesshaftwerden, das Bleiben betonen.
Doch das deutsche «Heimat» hat eine zusätzliche Dimension: Es meint nicht nur den Ort, wo man wohnt, sondern wo man hingehört. Es ist emotional aufgeladen, fast mystisch überhöht. Andere Sprachen kennen diese Intensität nicht – das französische «patrie» ist politischer, das englische «home» pragmatischer. Nur das deutsche «Heimat» vereint Sehnsucht und Schmerz, Geborgenheit und Verlustangst in einem einzigen Begriff.
Rückkehr an den Rhein
Warum also fühle ich mich hier in Bonn so zuhause, obwohl ich nicht hier geboren wurde? Es sind die Jahre zwischen 2009 und 2015, die diesen Ort mit Bedeutung aufgeladen haben. Die Universität, wo ich zum ersten Mal begriff, was wissenschaftliches Arbeiten bedeutet. Die Wohnung in Bad Godesberg; der Blick auf den Rhein; die Spaziergänge im Hofgarten, wo sich unter den alten Bäumen manche Lebensentscheidung klärte.
Heimat, so erkenne ich jetzt, ist nicht nur der Ort der Kindheit. Heimat kann auch der Ort sein, wo man zum ersten Mal ganz man selbst wurde. Bonn ist für mich zur Heimat geworden, weil ich hier lernte, wer ich bin und wer ich sein will. Die Stadt hat sich in meine Biografie eingeschrieben, ist Teil meiner Geschichte geworden. In Bad Godesberg schrieb ich meine allererste Lyrik. In Bonn überkam mich der lyrische Geist, der dichterische Druck, der sich Luft machte (vgl. Lyrik – Im Raum des Nebels).
Es sind die Schichten der Erinnerung, die einen Ort zur Heimat machen. Jede Strasse erzählt mir von früher, jeder Geruch – der Rhein im Morgennebel, die Kastanien im Hofgarten – wecken Erinnerungen. Heimat ist die Summe aller prägenden Momente, die an einem Ort verdichtet sind.
Die neue Sehnsucht
Aber was bedeutet Heimat in unserer Zeit? In einer Welt, in der Menschen ständig umziehen, in der Grenzen verschwimmen und das Internet uns zu Weltbürgern macht? Die Frage ist aktueller denn je, weil die Sehnsucht nach Heimat zu wachsen scheint, je mobiler wir werden.
Vielleicht ist es kein Zufall, dass der Heimatbegriff gerade jetzt eine Renaissance erlebt – allerdings in sehr unterschiedlichen Formen. Da sind die einen, die Heimat politisch instrumentalisieren, sie zur Abgrenzung gegen das Fremde nutzen. Und da sind die anderen, die Heimat neu definieren: als Wahlheimat, als multiple Zugehörigkeit, als Patchwork verschiedener Orte und Erfahrungen.
Die digitale Generation schafft sich ihre Heimat oft selbst: in Online-Communities, in virtuellen Räumen, in Netzwerken, die geografische Grenzen überwinden. Für sie ist Heimat weniger ein Ort als ein Zustand – das Gefühl, verstanden und akzeptiert zu werden, unabhängig davon, wo auf der Welt man sich gerade befindet.
Die Wiederkehr der Frage
Hier am Rhein, wo die Fähre nach Königswinter übersetzt und wo die Geschichte Deutschlands in Stein gemeisselt ist, denke ich über diese Veränderungen nach. Bonn war einmal Hauptstadt, dann wurde es zur Provinz – und blieb doch für mich Heimat. Das zeigt vielleicht, dass Heimat resistenter ist als politische Systeme, stabiler als Karrieren und Lebenspläne.
Die Deutschen haben ein kompliziertes Verhältnis zu ihrer Heimat. Zu oft wurde der Begriff missbraucht, zu sehr mit Blut-und-Boden-Ideologie kontaminiert. Aber vielleicht ist es Zeit, ihn zurückzuerobern – nicht als Ausschluss des Anderen, sondern als Einschluss des Eigenen. Heimat als Ort der Geborgenheit, nicht der Abschottung.
Thomas Bernhard, der österreichische Kulturkritiker, schrieb einmal: «Die Heimat ist das, was wir verlassen haben oder was uns verlassen hat.» Ein bitterer Satz, aber auch ein wahrer. Denn oft erkennen wir die Heimat erst, wenn wir sie verloren haben – oder wenn wir, wie ich heute, nach Jahren der Abwesenheit zurückkehren und spüren, dass da immer noch etwas ist, was uns hält.
Der Rhein fliesst weiter, wie er schon floss, als die Römer hier ihre Kastelle bauten, wie er fliessen wird, wenn wir alle vergessen sind. Aber für einen Moment, in diesem September, gehöre ich zu diesem Fluss, zu dieser Stadt, zu dieser Landschaft. Heimat ist vielleicht nichts anderes als dieses Gefühl der Zugehörigkeit – fragil und kostbar zugleich.
Und was ist für jeden von uns Heimat? Der Ort der Kindheit oder der Wahlheimat? Ein Gefühl oder ein geografischer Punkt auf der Landkarte? Es wäre interessant zu erfahren, was Heimat für die Leserinnen und Leser bedeutet. In den Kommentaren können gerne Gedanken und Geschichten dazu geteilt werden. Denn vielleicht ist Heimat am Ende das, was entsteht, wenn Menschen ihre Geschichten teilen.
Sapere aude!
S. Noir