«Nirgendwo wird die Einsamkeit so gefeiert wie in der Literatur…», so beginnt ein Artikel im ZEIT Magazin, den ich neulich las. Bedeutet Einsamkeit gleichzeitig auch Freiheit? Für mich ja – jedoch mit Einschränkungen. «Der berühmteste Einsame in der Literaturgeschichte war ein sehr geselliger Mann.» Der Autor bezieht sich hier auf Henry David Thoreau, der sich 1845 für zwei Jahre, zwei Monate und zwei Tage in eine Waldhütte zurückzog, um die Einsamkeit zu zelebrieren. Er suchte nach der Essenz des Lebens. Sein bekanntes Buch «Walden oder Leben in den Wäldern» habe ich meiner Liebsten vor etwa zwei Jahren zu Weihnachten geschenkt (siehe Foto im Anhang). Ein Einsamkeitsexperiment auf Zeit könnte ich mir auch vorstellen. Thoreaus Eremitenhütte lag nur drei Meilen von seinem Wohnort entfernt. Am Wochenende wurde er regelmäßig von seiner Mutter oder einer seiner Schwestern mit reich gefülltem Fresskorb besucht, und unter der Woche kamen Freunde und Neugierige vorbei, um zu sehen, was der Harvard-Absolvent im Wald so trieb. So könnte man es als Eremit auf Zeit doch aushalten, oder?
Diogenes von Sinope, der bekannteste Vertreter der kynischen Philosophie, war mit seiner Tonne – in der Einsamkeit – zufrieden, und seine Begegnung mit Alexander dem Großen gehört zu den berühmtesten Anekdoten der Antike. Thomas Mann liebte die Isolation im Strandkorb am Meer beim Schreiben. – Ich kann an dieser Stelle sehr das Buch «Mann vom Meer: Thomas Mann und die Liebe seines Lebens» empfehlen. «Wie schön ist es, allein zu sein. Vor allem, wenn man jemanden hat, dem man sagen kann: ‹Wie schön ist es, allein zu sein.›» (Mascha Kaléko – eine deutschsprachige Dichterin, die der Neuen Sachlichkeit zugerechnet wird.)
Einsamkeit scheint eine gesellige Angelegenheit zu sein; auch ich bräuchte Kommunikation – sei es nur das Schreiben von Texten, die ich online in die Welt schicken könnte, um meine Einsamkeit mitzuteilen. Ob es dann bei einer Einbahnstraßen-Kommunikation bliebe, bezweifle ich stark. Wie immer würde ich mich über Likes, Kommentare – über Resonanz – freuen und drauflos kommunizieren. Meine Einsamkeit wäre vermutlich eine geschwätzige Angelegenheit. Aber es gibt auch andere Menschen. «Ich kann nicht lange mit Menschen zusammenleben. Ich brauche ein wenig Alleinsein. Den Anteil an Ewigkeit», schrieb Albert Camus in sein Tagebuch.
Ich habe oft über meine doch romantisierte Vorstellung von einem Aufenthalt in einer einsamen Hütte am See geschrieben – und oft davon geträumt. Aber nur, wenn es wie bei Thoreau am Wochenende einen gut gefüllten Fresskorb gäbe und ich dennoch Anschluss an die Welt hätte: Strom, fließend warmes Wasser und Internet. Wahrscheinlich bleibt es am Ende doch nur bei einem melancholischen Fluchtsyndrom.
Im Prinzip erlebe ich diesen Rückzug jedes Mal, wenn ich schreibe. Es ist, als wäre ich in meiner Hütte am Waldsee, allein. Doch sobald die letzte Zeile geschrieben ist, stehe ich wieder mitten im Leben. Zwar ohne Fresskorb, aber mit der Kaffeemaschine in greifbarer Nähe und einem gut gefüllten Kühlschrank.
S.
PS: Im Rahmen dieser Kolumne möchte ich noch einmal ein wenig Werbung für den Gemeinschaftskanal NaturTV machen, den meine Liebste und ich gemeinsam betreiben. Dort zelebrieren wir mit halbstündigen Videos unsere Naturaufenthalte und genießen die Einsamkeit zu zweit. In diesem Sinne: Einsamkeit macht doch nur in geselliger Gemeinschaft Freude. Schließt euch uns also an und schaut unsere Videos mit an. Am Wochenende stelle ich eine neue Folge online. Hier geht es zum Kanal bei Gan Jing World: https://www.ganjingworld.com/s/4zom7NBwYX
«Non nobis solum nati sumus.» (Nicht für uns allein sind wir geboren.) – Cicero