Der Freytag: Warum uns 25-jährige Freundschaften mehr über das Leben verraten als jede Philosophie

Eine Begegnung in Coburg zwischen Baustellen und Bratwürsten

«Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden», schrieb Søren Kierkegaard. In Zeiten, da Millionen Deutsche ihre Heimat neu definieren müssen – durch Umzug, Jobwechsel oder gesellschaftliche Umbrüche –, wird diese Erkenntnis brandaktuell. Was macht einen Ort zur Heimat? Und warum fühlen sich manche Freundschaften nach Jahrzehnten an wie gestern?

Gestern stand ich auf dem Coburger Marktplatz und suchte Antworten. Nicht in Büchern, sondern im Leben selbst.

Vor genau einer Woche war ich in Bad Godesberg, gestern in Coburg. Zwei Heimaten, wenn man dem Begriff die Pluralität zugesteht, die er verdient. Coburg: zehn Jahre meines Lebens, zehn Jahre des Studierens, Feierns, Liebens. Eine Stadt, die ihre Erhabenheit nie verloren hat, auch wenn sie längst nicht mehr Residenz ist.

Das Herzogtum Sachsen-Coburg-Gotha – ein Name, der europäische Geschichte atmet. Von hier aus eroberte das Haus Sachsen-Coburg die Throne Europas: Belgien, Bulgarien, Portugal, und natürlich England, wo Prinz Albert, der Gemahl Queen Victorias, die britische Monarchie prägte. Die Coburger waren die Heiratsvermittler Europas, ihre Nachkommen sitzen heute noch auf dem britischen Thron. Eine kleine fränkische Stadt als Wiege europäischer Dynastien – Geschichte verdichtet sich manchmal an den unwahrscheinlichsten Orten.

Die Zeitlosigkeit der Freundschaft

Gestern traf ich Olli, einen Freund aus Studienzeiten. Ein Vierteljahrhundert kennen wir uns nun – sage und schreibe 25 Jahre. Und doch, als wir uns gegenüberstanden, war es, als hätte die Zeit stillgestanden. Das ist das Wunder wahrer Freundschaft: Sie kennt keine Chronologie. Man wird älter, vielleicht reifer, hoffentlich weiser, aber der Kern bleibt zeitlos jung. Die Stimme ist dieselbe, der Humor unverändert, die Art zu denken vertraut wie ein alter Mantel.

Wir unterhielten uns über die gute alte Zeit und stellten fest: Zeit ist in der inneren Wahrnehmung fast zeitlos. Natürlich gibt es Unterschiede zu früher – in den Überlegungen, den daraus resultierenden Handlungen, der Vorsicht vielleicht, mit der man durchs Leben geht. Aber da ist dieser unveränderliche Teil in uns, der weder altert noch sich wandelt.

Das Gespräch wandte sich der Philosophie zu. Olli erwähnte Søren Kierkegaard, und ich stellte eine bewusst provokative Frage: «Was bringt es uns eigentlich, uns mit den alten Philosophen zu befassen? Die wirklich wichtigen Fragen sind bis heute nicht beantwortet: Warum existieren wir? Warum leben wir?» Ich liess Olli geflissentlich im Unklaren darüber, dass dies eine Provokation war – etwas Pfeffer für die Unterhaltung.

Olli, kaum aus der Ruhe zu bringen, antwortete gelassen. Wir disputierten. Meine These: Vielleicht müssen wir zunächst Grundannahmen klären – Schopenhauer lässt grüssen –, denn diese würden die Antwortfindung beeinflussen. Erstens: Ist das Leben atomistisch fix an einem Ort und einmalig, oder handelt es sich um einen Kreislauf der Wiederkehr, möglicherweise an unterschiedlichen Orten, in anderen Dimensionen, auf anderen Planeten?

Die Mathematiker machen sich das Leben leicht: Sie definieren ihr Bezugssystem und fertig. Darauf basierend beginnen sie mit Gedanken, Analysen, Herleitungen. Aber kann man die Komplexität existenzieller Fragen durch einfache Herleitung beantworten? Ich denke ja – die Antworten werden jedoch sehr unterschiedlich ausfallen. Beim Atheisten wird diese Antwort schneller zu finden sein, beim gläubigen Menschen kann sie komplexer werden.

Heimat und Geschmack

Dies war nur ein kleiner Aspekt des Coburg-Besuchs. Aber er zeigt: Heimat hat viel mit den Menschen zu tun, die man an dem Ort antrifft, den man Heimat nennen möchte. Freundschaft, gute Freundschaft ist zeitlos. Egal wie lange man sich nicht sah – wenn man sich trifft, ist es, als hätte man gestern zuletzt miteinander gesprochen. Und dieses «Gestern» kann Jahre zurückliegen. Das Intervall wird umso grösser, je älter man wird.

Als wir auf dem Marktplatz standen, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen: eine Coburger Bratwurst musste her. Das ist fast schon Ritual geworden. Egal wie satt ich bin – eine Coburger Bratwurst auf dem Marktplatz ist Pflicht. Was ist Heimat? Sicherlich auch Geschmack, Essen. Achtet einmal auf eure Mitmenschen: Wenn sie sagen «das schmeckt mir nicht» und nicht ein Gericht, sondern eine Situation meinen, dann habt ihr einen gustatorisch veranlagten Menschen vor euch. Bei dem steht Heimat ganz sicher mit Essen in Verbindung.

Ich bin offen: Essen spielt auch bei mir eine Rolle. Guter Geschmack, guter Kaffee – wer meine #erstmalkaffee-Posts verfolgt, weiss das. Heimat ist auch sensorisch: der Geschmack der Kindheit, der Geruch der Grossmutter, die Musik der Jugend. All das verdichtet sich zu dem, was wir Zugehörigkeit nennen.

Deutschland als Baustelle

Schade nur, dass das Coburger Landestheater noch immer geschlossen ist. Wegen Umbau, Renovierung – wie ich gestern erfuhr, soll die Renovierung erst 2030 beginnen. Realistisch eingeordnet bedeutet das: frühestens 2035, vielleicht erst 2040 ist mit einer Wiedereröffnung zu rechnen. Gott sei Dank konnte ich 2015, als ich frisch in die Heimat Kronach zurückgekehrt war, noch einmal ins Landestheater und mir Bellinis «Norma» anschauen.

Aber überall Baustellen. Als ich vor einer Woche nach Bonn fuhr: Baustellen auf der Autobahn, in Bonn, in Bad Godesberg. Gestern auf der Fahrt nach Coburg: eine lange Baustelle auf dem Frankenschnellweg, in Coburg selbst wieder Baustellen. Irgendwie sehe ich nur noch Baustellen. Deutschland – eine einzige grosse Baustelle?

Vielleicht stehen diese Baustellen im Aussen als Zeichen für die gesellschaftlichen Baustellen, für die eigenen Baustellen, die wir zu bearbeiten haben. Vielleicht leben wir in einer Zeit der Ausbesserung, der Verbesserung, der Erneuerung. Die Infrastruktur bröckelt, aber sie wird erneuert. Die Gesellschaft knirscht, aber sie sucht nach neuen Formen. Wir selbst merken, wo es hapert, und versuchen zu reparieren.

Die Baustellen der Seele

Heimat ist auch: die alten Baustellen zu bearbeiten. Alte Wunden zu verarzten, Freundschaften wieder zu beleben, Versäumtes nachzuholen. In meinem Gespräch mit Olli wurde mir das bewusst. Wir sprachen über Kierkegaard, aber eigentlich sprachen wir über uns, über die Zeit, die vergangen ist, über das, was bleibt.

Der dänische Philosoph schrieb einmal: «Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden.» Vielleicht ist das der Sinn unserer Besuche in alten Heimaten: das rückwärtige Verstehen. Wir kehren zurück, nicht um zu bleiben, sondern um zu begreifen. Was hat uns geprägt? Was trägt uns noch immer? Was ist vergänglich, was beständig?

Die Coburger Bratwurst schmeckt noch immer wie früher. Olli ist noch immer der Freund von damals. Das Theater ist geschlossen, aber die Erinnerungen sind intakt. Manches vergeht, anderes währt. In den Baustellen überall sehe ich nicht nur Verfall, sondern Erneuerung. Deutschland repariert sich, die Gesellschaft auch, und wir mit ihr.

Heimat, so denke ich nach diesem Tag in Coburg, ist nicht nur ein Ort. Sie ist ein Zustand: das Gefühl, verstanden zu werden, ohne sich erklären zu müssen. Das Wissen, dass da Menschen sind, bei denen die Zeit stillsteht, wenn man sie wiedertrifft. Das Vertrauen, dass manche Dinge bleiben, auch wenn sich alles ändert.

Die Baustellen werden irgendwann verschwinden, die Strassen werden wieder frei sein. Das Theater wird wiedereröffnen, vielleicht sogar schöner als zuvor. Und wir werden älter, aber in uns bleibt dieser zeitlose Kern, der uns mit den Orten und Menschen verbindet, die wir Heimat nennen. Das ist vielleicht der wahre Sinn unseres Daseins: nicht zu verstehen, warum wir existieren, sondern zu spüren, dass wir dazugehören.

Sapere aude!

S. Noir