Münchner Opernzauber und die Macht der Vergeltung
Es gibt Momente, da löst eine zufällige Begegnung Gedankenketten aus, die einem die Welt neu interpretieren lassen. So geschehen an jenem verlängerten Wochenende in München, der Landeshauptstadt Bayerns, wo meine Frau und ich uns mit einer alten guten Freundin trafen – einer Bekannten, die uns durch die Stadt führte, als wäre sie eine Eingeborene in ihrem natürlichen Habitat.
München empfing uns mit seiner typischen Mischung aus alpenländischer Gemütlichkeit und kosmopolitischem Flair. Wir schlenderten über den Viktualienmarkt, wo zwischen Delikatessen und Blumenständen das Leben in seiner appetitlichsten Form pulsiert. Später wateten wir – nur mit den Füßen, versteht sich – durch die Isar, während um uns herum die Münchner ihren Feierabend zelebrierten. Ein Spaziergang durch die Isarauen folgte, dann der obligatorische Besuch im Englischen Garten, wo wir an der Eisbachwelle den Surfern zusahen, die mit stoischer Beharrlichkeit gegen die künstliche Welle ankämpften – ein geradezu metaphysisches Schauspiel der Sisyphusarbeit im Herzen Bayerns.
In der Maxvorstadt, nahe dem Lenbachhaus, atmeten wir Kunstgeschichte ein, bevor wir in der Nähe der TU München in einer urgemütlichen Studentenkneipe zu Mittag aßen. Ich bestellte ein großes Schnitzel – jene kulinarische Erinnerung an die Studienzeit, die nostalgische Gefühle hervorruft wie Prousts Madeleine.
Doch der Höhepunkt unseres Besuchs war zweifellos der Abend in der Münchner Staatsoper. Wolfgang Amadeus Mozarts „Don Giovanni“ stand auf dem Programm – jenes Meisterwerk, das wie kaum ein anderes die Abgründe menschlicher Leidenschaft und die Unausweichlichkeit der Vergeltung auslotet.
Zwei Giganten, zwei Epochen
Die Konfrontation mit Mozart in der Staatsoper ließ mich unwillkürlich an Richard Wagner denken – jenen anderen Titan der Operngeschichte, der ein halbes Jahrhundert nach Mozarts Tod die Bühnenkunst revolutionieren sollte. Beide Komponisten, beide Deutsche (auch wenn Mozart Österreicher war, gehörte er doch zum deutschen Kulturkreis), beide Erneuerer der Oper, und doch könnten ihre Ansätze kaum unterschiedlicher sein.
Mozart, geboren 1756 in Salzburg und gestorben 1791 in Wien, repräsentierte die Vollendung der Wiener Klassik. Wagner hingegen, geboren 1813 in Leipzig und gestorben 1883 in Venedig, war der Wegbereiter der Moderne. Zwischen ihren Lebensdaten liegen nur 22 Jahre, dennoch trennen sie Welten.
Es gibt große Komponisten, die sich durch keinerlei formale, handwerkliche oder ästhetische Innovationen in die Geschichtsbücher eingeschrieben haben. Mozart war darin möglicherweise der bedeutendste, ein Vollender und Bewahrer, ein prototypischer Klassiker eben. Wagner hingegen sprengten alle Konventionen. Er schuf das Konzept des Gesamtkunstwerks und führte die Leitmotivtechnik zu einer bis dahin ungekannten Komplexität.
Hätten sich Mozart und Wagner persönlich begegnet? Die Mathematik der Lebensdaten lässt keinen Zweifel: Unmöglich. Mozart starb, als Wagner gerade acht Jahre alt war. Und doch sind sie durch unsichtbare Fäden verbunden – durch die Tradition der deutschen Oper, die Mozart mit seinen letzten Werken begründete und die Wagner zur Vollendung führte.
Die Revolution der Leitmotive
Wagner verwendete in seinem Ring des Nibelungen über 100 musikalische Leitmotive, die er selbst „Erinnerungsmotive“ nannte. Diese Technik wurde zum wichtigsten kompositorischen Prinzip und strukturierenden Element seiner Tetralogie. Jede wichtige Person, jeder Gegenstand, jede Idee erhielt ihre eigene musikalische Formel – eine Art DNA der Musik.
In seinem letzten Werk, dem Parsifal, griff Wagner erneut auf die Leitmotivtechnik zurück, wandelte sie aber gemäß den besonderen Gegebenheiten seines „Bühnenweihfestspiels“ ab. Das Liebesmahl-, Glaubens- und Gralmotiv prägen das Vorspiel und durchziehen das gesamte Werk.
Kannte Mozart diese Technik? In rudimentärer Form durchaus. In „Don Giovanni“ finden sich wiederkehrende musikalische Motive – die düsteren d-Moll-Akkorde der Ouvertüre, die das Motiv des Komturs ankündigen und am Ende der Oper wiederkehren, wenn der steinerne Gast Don Giovanni in die Hölle schickt. Doch was bei Mozart sparsam und gezielt eingesetzt wird, entfaltet Wagner zu einem alles durchdringenden Netzwerk musikalischer Bezüge.
Erlösung und Vergeltung
Während ich in der Staatsoper der dramatischen Entwicklung von „Don Giovanni“ folgte, wurde mir die fundamentale Verschiedenheit der beiden Komponisten in ihrem Umgang mit dem Thema der Erlösung bewusst. Don Giovanni stirbt unerlöst. Der steinerne Gast – der Geist des von ihm getöteten Komturs – fordert ihn siebenmal zur Reue auf. Doch Don Giovanni gibt nicht nach und wird in die Flammen der Hölle gerissen.
Die Tonart d-Moll ist bei Mozart traditionell für den Affekt der Rache und Vergeltung reserviert, wie auch in der Arie „Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen“ aus der Zauberflöte. Die Moral ist eindeutig: Wer böses tut und nicht bereut, erleidet Vergeltung.
Wagner hingegen entwickelte eine völlig andere Philosophie der Erlösung. In seinem Parsifal wird die Erlösung nicht durch göttliche Gerechtigkeit, sondern durch Mitleid erreicht. „Durch Mitleid wissend, der reine Tor“ – so lautet die Prophezeiung. Parsifal erlöst nicht nur Amfortas von seinen Qualen, sondern auch Kundry von ihrem ewigen Fluch.
Wagner erklärte, dass er zur Transformierung seiner gleichnishaften Botschaft – Erlösung und Regeneration der Menschheit durch Mitleid – eine Kunstform gewählt habe, die mit religiöser Symbolik eine „entrückende Wirkung auf das Gemüt“ ausüben solle.
Die Zeit und ihre Geister
Mozart und Wagner erlebten völlig unterschiedliche historische Epochen. Mozart war ein Kind der Aufklärung, Wagner ein Beobachter der industriellen Revolution und der gesellschaftlichen Umbrüche des 19. Jahrhunderts. Diese unterschiedlichen Zeiterfahrungen prägten ihre Musik fundamental.
Mozart komponierte für eine aristokratische Gesellschaft, die noch an klare Ordnungen und moralische Gewissheiten glaubte. Don Giovanni wird bestraft, weil er die göttliche und gesellschaftliche Ordnung verletzt hat. Die Vergeltung ist swift und unerbittlich – aber auch gerecht.
Wagner hingegen sah sich mit den philosophischen und sozialen Strömungen seiner Zeit konfrontiert – mit Bakunin und Nietzsche, mit Schopenhauer und der deutschen Mythologie. Seine kontroversen ästhetischen und weltanschaulichen Thesen sind unverbrüchlicher Teil der europäischen Geistesgeschichte.
Die Macht der Reue
Während der letzten Szene von „Don Giovanni“ dachte ich über die verschiedenen Wege nach, die Kunst und Leben in Bezug auf Schuld und Vergebung einschlagen können. Don Giovanni hätte erlöst werden können – aber er weigert sich zu bereuen. Seine Sturheit wird zu seinem Verhängnis.
Bei Wagner ist Erlösung komplexer. Kundry kann nur erlöst werden, wenn ein Mann ihrer Verführung widersteht. Sie war es, die Jesus Christus auf seinem Weg zur Kreuzigung auslachte und ihn nun „von Welt zu Welt“ in immer neuen Wiedergeburten sucht, um endlich Erlösung von ihrer Schuld zu finden. Ihre Erlösung kommt nicht durch eigene Reue, sondern durch Parsifals Mitleid und Widerstand gegen die Versuchung.
Mozart zeigt uns: Wer bereut, dem kann vergeben werden. Wer sich weigert zu bereuen, fährt zur Hölle. Wagner aber zeigt eine subtilere Wahrheit: Manchmal braucht es einen anderen Menschen, der uns den Weg zur Erlösung weist. Manchmal ist unsere eigene Kraft zur Reue nicht ausreichend.
Epilog: Die Weisheit der Sonntage
Als wir nach dem Opernbesuch durch die nächtlichen Straßen Münchens wandelten, dachte ich daran, wie bereichernd es ist, wenn man aus der Routine des Alltags ausbricht und sich neuen Erfahrungen öffnet. Die Begegnung mit großer Kunst – sei es Mozart oder Wagner – hält uns einen Spiegel vor und lässt uns über die fundamentalen Fragen des Menschseins nachdenken.
Don Giovanni scheiterte, weil er unfähig war zur Selbstreflexion. Seine Hybris ließ keinen Raum für Zweifel oder Reue. Parsifal hingegen gelangte durch Mitleid zur Erkenntnis und wurde zum Erlöser.
Die Lektion, die sowohl Mozart als auch Wagner uns lehren, ist zeitlos: Es ist gut, wenn man seine Fehler zugibt und bereuen kann. Noch besser ist es, wenn man den Willen hat, es künftig besser zu machen. Denn letztendlich liegt in der Bereitschaft zur Wandlung die wahre menschliche Größe – sei es in der kristallklaren Moral der Klassik oder in der komplexen Mitleidsethik der Romantik.
Die Kunst, so verstanden, wird zu einem Katalysator der Selbsterkenntnis. Sie zeigt uns nicht nur, wer wir sind, sondern auch, wer wir werden könnten. Das ist vielleicht das wertvollste Geschenk, das ein verlängertes Wochenende in München – zwischen Viktualienmarkt und Staatsoper – uns machen kann.
Sapere aude!
S. Noir