Der Freytag: Von Freiheit und Abhängigkeit – Eine transatlantische Betrachtung zum amerikanischen Unabhängigkeitstag – 1776

Wenn am 4. Juli wieder Millionen von Amerikanern ihre Flaggen schwenken, Grillfeuer entzünden und Feuerwerke den Himmel erleuchten, dann feiern sie nicht nur die Geburt ihrer Nation vor 249 Jahren. Sie zelebrieren eine Idee, die tief in der deutschen Geistesgeschichte verwurzelt ist – die Idee der Selbstbestimmung, der Befreiung von fremder Herrschaft, der Unabhängigkeit als Grundpfeiler menschlicher Würde.

Es ist eine bittere Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet deutsche Soldaten auf beiden Seiten dieser ersten großen Unabhängigkeitsbewegung der Neuzeit kämpften. Während hessische Söldner im Dienste der britischen Krone über den Atlantik verschifft wurden, um die rebellischen Kolonisten niederzuschlagen, standen auf der anderen Seite Männer wie Friedrich Wilhelm von Steuben, der preußische Offizier, der George Washingtons zerlumpte Kontinentalarmee in Valley Forge zu einer schlagkräftigen Truppe formte. Steuben, dieser eigenwillige Baron mit seinem französischen Adjutanten und seinem Windhund Azor, brachte preußische Disziplin und europäische Kriegskunst in die amerikanischen Wälder – und wurde so zum Geburtshelfer einer Republik, die ihre Feinde mit deren eigenen Waffen schlug.

Noch grotesker mutet die Tatsache an, dass Johann de Kalb, ein bayerischer Offizier französischer Dienste, sein Leben für die amerikanische Sache hingab, während Tausende seiner Landsleute als Hessen-Kasseler Söldner gegen eben diese Sache kämpften. De Kalb fiel 1780 in der Schlacht von Camden – ein Deutscher, der für die Freiheit eines fremden Volkes starb, während andere Deutsche gegen diese Freiheit zu Felde zogen. Welch ein Sinnbild für die Zerrissenheit des deutschen Geistes zwischen Gehorsam und Aufbruch, zwischen alter Ordnung und neuer Zeit!

Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 war mehr als nur ein politisches Dokument – sie war ein philosophisches Manifest, das die Ideen der Aufklärung in revolutionäre Praxis übersetzte. „Life, Liberty and the pursuit of Happiness“ – diese Trias hallte wider in den deutschen Landen, wo Kant zur gleichen Zeit seine Kritiken verfasste und die Aufklärung als „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ definierte. Was die amerikanischen Kolonisten gegen die britische Krone unternahmen, war nichts anderes als dieser kantsche Ausgang aus der Unmündigkeit – nur eben kollektiv, mit Musketen und Kanonen.

Heute, am Independence Day, verwandelt sich Amerika in eine gigantische Bühne patriotischer Selbstfeier. Von der Ostküste bis Hawaii erstrahlen die Städte in Rot, Weiß und Blau. Paraden ziehen durch die Straßen, Politiker halten Reden über Freiheit und Demokratie, während Millionen von Grills qualmen und die Luft erfüllt ist vom Knallen der Feuerwerkskörper. Es ist ein Spektakel, das uns Europäern fremd und vertraut zugleich erscheint – fremd in seiner ungenierten Selbstbejubelung, vertraut in seinem Kern: der Sehnsucht nach Zugehörigkeit zu etwas Größerem als dem eigenen kleinen Leben.

Doch was bedeutet Unabhängigkeit heute, in einer Welt globaler Verflechtungen? Schiller schrieb einst: „Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei, und würd‘ er in Ketten geboren.“ Diese Zeilen aus „Die Worte des Glaubens“ klingen wie eine Prophezeiung auf unsere Zeit, in der wir scheinbar freier denn je sind und uns doch gefangen fühlen in unsichtbaren Netzen aus Algorithmen, Märkten und sozialen Zwängen.

Goethe, der große Beobachter menschlicher Leidenschaften, erkannte bereits die Dialektik von Freiheit und Bindung: „Niemand ist mehr Sklave, als der sich für frei hält, ohne es zu sein.“ Wie prophetisch diese Worte in einer Zeit klingen, da wir uns für autonom halten, während unsere Daten von Konzernen gesammelt, unsere Meinungen von Algorithmen geformt und unsere Entscheidungen von unsichtbaren Nudging-Mechanismen beeinflusst werden!

Nietzsche schließlich, der radikale Denker der Selbsterschaffung, predigte die Befreiung von allen äußeren Autoritäten: „Werde, was du bist!“ Doch seine Vision des freien Menschen, des Übermenschen, verkehrte sich allzu oft in ihr Gegenteil – in die Unterwerfung unter neue, noch totalere Ideologien.

Europa heute ist ein paradoxes Gebilde: formal souverän und doch eingebunden in supranationale Strukturen, demokratisch legitimiert und doch oft ohnmächtig gegenüber globalen Kräften. Deutschland, das Land der Dichter und Denker, navigiert zwischen amerikanischen Sicherheitsgarantien, chinesischen Handelsinteressen und russischen Energielieferungen – ein Souverän, der seine Souveränität täglich neu verhandeln muss.

Und die Amerikaner? Sie, die einst gegen fremde Herrschaft aufstanden, finden sich heute gefangen zwischen tech-oligarchischen Strukturen und polarisierenden Medienlandschaften. Die Erben der Boston Tea Party bestellen ihre Bücher bei Amazon, ihre politischen Meinungen bei Facebook und ihre Weltanschauung bei Netflix. Ist das noch die Freiheit, für die ein Steuben und ein de Kalb kämpften?

Vielleicht liegt die wahre Lehre dieses 4. Juli darin, dass Unabhängigkeit nie ein Zustand ist, sondern immer ein Prozess – ein tägliches Ringen um Selbstbestimmung in einer Welt wechselseitiger Abhängigkeiten. Die Deutschen, die einst auf beiden Seiten des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges kämpften, waren Sinnbild dieser ewigen menschlichen Zerrissenheit zwischen Gehorsam und Aufbruch, zwischen Sicherheit und Freiheit.

Wenn an diesem 4. Juli die Feuerwerke über Amerika erblühen, dann feiern sie nicht nur einen historischen Tag, sondern eine immerwährende Aufgabe: die Verwirklichung jener Freiheit, die Kant als „das einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht“ bezeichnete. Es ist ein Auftrag, der weder an Grenzen noch an Staatsbürgerschaften gebunden ist – ein Auftrag an jeden Menschen, überall auf der Welt.

In diesem Sinne sind wir alle Erben jener deutschen Offiziere, die einst in Valley Forge eine neue Welt mitgeboren haben. Und vielleicht ist das die schönste Art, den 4. Juli zu feiern: nicht als amerikanisches, sondern als menschliches Ereignis – als Erinnerung daran, dass Freiheit das kostbarste Gut ist, das wir besitzen, und dass es täglich neu erkämpft werden muss.

Sapere aude!

S. Noir

Unabhängigkeitstag