Der Freytag: Auf der Suche mitten in Paris

Ich befinde mich mitten in Paris. Sitze in einem kleinen Café und bin wieder am Anfang. Am Ausgangspunkt von etwas, das sehr unterschwellig versucht, in mein Leben zu rücken. Ich will es nicht beim Namen nenen, stelle mir aber die Frage, ob es mich auch diesmal wieder erdrücken – die Luft abschnüren wird?

Damals war die Flucht nach innen der einzige Ausweg. Es war bequem. Menschen kommen, Menschen gehen, Freunde kommen, Freunde gehen. Die Vertrautheit mit ihrem damit verbundenen warmen Band des Familiengefühls: Alles ist so zerbrechlich wie dünnes Glas. Ist der Defekt, der Bruch, der unvermeidbare Lauf der Dinge? Gibt es nichts, das Bestand hat? Scheinbar nein; falls doch, habe ich es noch nicht gefunden. Aber jetzt sitze ich hier – mitten in Paris. Es ist ein Moment, in dem ich es wieder sehr deutlich spüre. Vielleicht ist es auch nur der Wunsch, aus einem von äußeren Zwängen dominierten Leben zu fliehen? Nein, ich sitze hier, mitten in Paris. Die Stadt der Künste und wie gern‘ wäre ich einer von ihnen. – Irgendwie scheinen wir immer das sein zu wollen, was wir gerade nicht sind und der Wunsch nach mehr ist wohl das ständige Streben des menschlichen Lebens. Egal, ich sitze hier, mitten in Paris, bin wieder einmal im Leben am Anfang von etwas, von dem ich weder das Ziel noch die Richtung kenne, aber diesmal bin ich offen und habe mir vorgenommen, nicht wieder nach innen abzutauchen. Bin offen und vor allem bin ich frei – jetzt bin ich nur noch für mich selbst verantwortlich – aber wohin mit all dieser Freiheit?

Ich muss niemanden fragen. Kann gehen, wohin ich will und wann ich will. So sitze ich nun hier mit meiner Freiheit auf Raten mitten in Paris. Ich spüre deutlich den Moment. Beobachte im Augenblick die Menschen. Rieche die Stadt mit all ihren Düften und sehe viele Menschen, die im Automatismus ihres Lebens gefangen zu sein scheinen. Sie irren hektisch umher. Was nehmen sie wahr? Mir scheint, viele hetzen nur noch von Termin zu Termin. Denken all diese Menschen auch so oft nach über ihr Empfinden, über Dinge, die größer sind als sie selbst? Mitten in Paris; ich habe es gewagt und ich sitze hier. Im Moment spüre ich es ganz deutlich. Ich fühle die Sehnsucht. Im Moment habe ich noch kein Wort, das dieses Gefühl beschreiben könnte. Ich vernehme meine innere Stimme, die sehr unklar mit mir zu kommunizieren versucht. Diese spezielle Situation mitten in Paris, dieses Gefühl ist einerseits anregend, aber zugleich auch etwas seltsam, denn obwohl ich ein neugieriger und interessierter Mensch bin, mag ich das Ungewisse, das Ungreifbare, eigentlich überhaupt nicht. Ich sitze hier mitten in Paris, im Café und habe all meinen Mut und meine Freiheit für mich exklusiv.

Ich genieße den Café, natürlich schwarz wie immer. Mein Skizzenbuch ist aufgeschlagen und der Bleistift liegt oben auf. Wie es sich wohl entwickeln wird? Gerade in diesem Augenblick weiß ich nur, dass ich hier im Café mitten in Paris sitze und bereit bin für das, was auf mich zukommt. Dieser Moment ist greifbar fassbar, real, echt, mitten im Leben, mitten in meinem Leben, ein kurzer Augenblick, aber er ist real und greifbar. Vielleicht ist es die Muse, die in mein Leben rückt, diese unbekannte Macht der Inspiration, die schon große Werke vollbringen ließ; viele Schriftsteller erklommen Dank ihr den literarischen Olymp und wie schön wäre es, wenn die Zeilen fließen könnten. Irgendetwas stockt, blockiert – ist es zu viel des Guten an Freiheit? Ich kann im Moment nur beobachten und es geistern auch viele – zu viele – Gedanken herum; es will einfach kein Text fließen. – Das Kreative will stimuliert werden; dachte ich mir und wagte den Schritt nach Paris. Jetzt sitze ich hier im Café mitten in Paris und genieße den Café. Aber der Trubel lässt mich einfach nicht zur Ruhe kommen und keinen klaren Gedanken fassen. Es hämmert und dröhnt in meinem Schädel. Ich warte auf die Muse. Ja, auf die Muse!

Wie schön wäre es, wenn die Inspiration bereits hinter der nächsten Ecke auf mich lauern würde. Aber ich sitze hier in Paris und es kommen nur Gedanken an alle möglichen Dinge hoch. Nichts von literarischer Bedeutung. Die Suche nach der Muse ist eine schöne und sehr romantische Vorstellung; ein Traum, der zum Sinnieren einlädt. – Ob man immer den nächsten Schritt auch gehen sollte oder man besser häufiger mal stehen bleibt? Eine der Kernfragen im Leben! – Wann hat man den perfekten Standpunkt erreicht? – Jetzt sitze ich hier mitten in Paris und trinke Café und ich bringe keinen klaren Gedanken zu Papier. Wie gerne würde ich gute Texte schreiben. Etwas Richtiges. Vielleicht sogar etwas Großes. – Vielleicht ist die Vorstellung als Autor das Dasein zu fristen auch nur eine Romantisierung, die wenig mit der Realität zu tun hat, eine idealisierte Wunschvorstellung, eine Träumerei.

Wie oft träumte ich von einem Leben als Schriftsteller. Ich habe eine Schreibblockade. Sie hält bereits seit Wochen an. Paris ist meine letzte Hoffnung – jetzt bin ich hier und alles ist beim Alten. Wo bist du nur Muse? Erst jetzt fällt mir auf, dass es mich in ein Café verschlagen hat, wo überhaupt keine Touristen sind. Ich bemerke diesen ganz besonderen Flair des Ortes. Ich befinde mich im Paris der Liebe, im Paris der Künste und im Paris der Inspiration. Plötzlich sitze ich hellwach am Tisch; der Ort ist noch derselbe; nur irgendwie hat sich schlagartig meine Wahrnehmung verändert. Ich beobachte die Menschen. Still und unauffällig. Höre zu, was sie sagen. Sie sprechen über alles Möglich. Ich sitze hier; trinke meinen Café; immer noch mitten in Paris und inhaliere den Augenblick. Ich spüre plötzlich diesen kreativen Nährboden; sauge ihn förmlich auf und habe fast unbemerkt den Bleistift ergriffen und schreibe. – Ich denke an Goethes Faust: »Es irrt der Mensch so lang er strebt.«1https://de.wikisource.org/wiki/Seite:Faust_I_(Goethe)_027.jpgOhne Streben kommt alles von selbst, selbst die Muse, mitten in Paris.

S.

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    https://de.wikisource.org/wiki/Seite:Faust_I_(Goethe)_027.jpg

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