Der Freytag: Die Russen-Rolex

Ich sitze im Kaffeehaus. Diesmal ohne Schreibblockade. Und diesmal mitten in Deutschland. Völlig in Gedanken versunken und ins Schreiben vertieft, reißt mich ein Tippen auf meine Schulter aus meiner wohligen, stillen Schreibwelt. »Jetzt bin ich aber erschrocken!«, stöhne ich verdrießlich. Nadja, eine alte Schulfreundin, steht vor mir und lächelt mich an. Sie hat sich kaum verändert; nur in ihrem Gesicht sind ein paar tiefe Spuren der Zeit zu sehen. »Was machst du denn hier? Wie lange ist das jetzt her?«, fragt sie. »Na ja, ich versuche meine Gedanken zu sortieren und schreibe gerade eine Lyrik über die Zeichen der Zeit. Und ich glaube, da wir gerade von Zeit sprechen, es muss vor dreißig Jahren gewesen sein, als wir uns zum letzten Mal sahen und du Hals über Kopf von hier weggezogen bist.«, sage ich. – Viele Bilder von damals kehren schlagartig vor meinem geistigen Auge aus den Schubladen des Unterbewusstseins von früher zurück.

Nadja: Altes russisches Adelsgeschlecht, Elternhaus zerrüttet, Mutter und Tochter zogen kurz nach ihrer Geburt in den Westen; gleich nach der Scheidung ihrer Eltern. Ich erinnere mich noch gut an ihre Mutter. Sie zog sich oft schrill und farbenfroh an und schminkte sich stark – sehr bunt sah sie aus. Damals dachte ich immer an Aras, wenn ich sie sah – an die Papageienart aus Südamerika. In gewisser Weise waren beide – Mutter und Tochter – bunte Vögel, die damals in meiner Heimat landeten. Nadja und ich drückten gemeinsam die Schulbank, bis sie kurz vor dem Abitur die Stadt verließen. Der Kontakt riss vollständig ab. – Vielleicht liegt das an der russischen Mentalität? – Aras bleiben zumindest lebenslang zusammen. Die Mutter war immer auf der Suche nach mehr – ich glaube, es war die Suche nach mehr Wohlstand, einem besseren Leben. Aber es liegt so lange zurück. Vieles verdreht sich in der Vorstellung mit der Zeit.

Die russische Mentalität; sie wirkt rau und kühl auf mich; auch die Sprache klingt hart. Es wird behauptet, dass Russen gut in Mathematik und hervorragend im Schach sind. Doch Nadja war eine royale Ausnahme, weder in Mathe gut noch beim Schachspielen war sie begabt; dafür kannte sie sich hervorragend mit Tschaikowsky und Tolstoi aus – jeder hat seine Stärken. Sie setzt sich ungefragt zu mir an den Tisch und erzählt einfach gerade drauf los. Es ist wie früher; in diesem Punkt hat sich gar nichts geändert. Sie spricht über ihre große Liebe, Heirat, Trennung und Scheidung. Sie erzählt mir von der anschließenden Ernüchterung und ihrer Desillusionierung mit einhergehender Depression. Sie hätten sich auseinandergelebt und aus der großen Liebe wurde mit der Zeit Routine. Beim Auseinanderdriften ging die gemeinsame Sprache irgendwo verloren.

– Warum sprechen Menschen mit der Zeit nicht mehr miteinander? Liegt es am Mangel an gemeinsamen Interessen? Liegt es daran, dass die Anzahl der gemeinsamen Wörter begrenzt ist? Ist irgendwann alles ausdiskutiert? Ist das Verstummen in Beziehungen immanent? Nadja muss bemerkt haben, dass meine Gedanken wo anders sind und meine Aufmerksamkeit nicht mehr bei ihr ist. Sie macht das, was alle Frauen in so einem Moment tun, wenn sie geschickt sind. Sie fragt mich: »Wollen wir eine Kleinigkeit essen?« »Ich habe etwas Appetit!«, fügt sie hinzu. »Aber ja gerne!« Ich bestelle mir noch einen Cappuccino und ein Croissant mit viel Butter und Orangenmarmelade. Sie bestellt nichts, aber fährt mit ihrer Lebensgeschichte fort. »Gott sei Dank sind wir kinderlos geblieben. Es hätte mein Herz zerrissen. Eine Scheidung finde ich sehr schlimm für die Kinder.«, so Nadja.

Sie hat Gesang nach ihrer Scheidung studiert. Dank des großen Vermögens von ihrem Ex, das jetzt nicht mehr ganz so groß ist, wie sie mir mit einem leichten Lächeln offenbart, ist die Zeit nach der Scheidung einigermaßen erträglich gewesen. – Dennoch ist ihr Herz auf dem Scheiterhaufen der gebrochenen Herzen verglüht – das höre ich aus jeder Silbe und wie sie zu mir spricht heraus. Jetzt ist sie Bloggerin und schreibt ab und an für das Feuilleton einer großen deutschen Wochenzeitung. Auch hat sie die Liebe wieder entdeckt; sie ist zwar nicht mehr so groß, wie sie damals war, beim ersten Mal, aber jetzt sei es auch etwas Solides. Er ist Bankdirektor und natürlich wohlhabend. – Natürlich, was sonst denke ich mir.

Meine Gedanken ziehen sich wieder in meine eremitische Schreibwelt zurück. Ich sehe den Bankdirektor; ich sehe ein Schloss mit Bediensteten; jedoch keine Kinder; Nadja hat in ihrem Schloss kein Lächeln auf den Lippen, alles wirkt kühl. Ich bin völlig in Gedanken versunken – ungewollt – denn Nadja hat mir Unmengen an Schreibhumus auf meinen geistigen Ideenhaufen hinterlassen. Plötzlich funkelt eine goldene, mit Diamanten besetzte Rolex vor meinen Augen und der Anblick reißt mich schlagartig aus meiner Entrückung. Die nächsten Worte, die auf mein Bewusstsein treffen: »Die Rolex habe ich von meinem Schatz, es ist mein Hochzeitsgeschenk von ihm. Was sagst du, gefällt sie dir?« Völlig erschrocken rutscht mir unbedacht nur: »Russen-Rolex!« über meine Lippen.

Fortsetzung folgt …

S.

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