Der Freytag: Über Mut und die Frage nach Heldentum

Es ist wieder Freitag; ich sitze im Kaffee. Mein Kännchen Kaffee steht noch übervoll vor mir; es wurde mir heute auf einem Silbertablett serviert – die Bedienung war sehr freundlich. Jedoch bin ich tief in meine Gedankenwelt versunken. Es ist die Welt von 1999; hier bin ich das letzte Mal 1999 gewesen. War noch weit entfernt von Lyrik und Sprache, hatte noch studiert und bin tief in die Wissenschaftswelt eingetaucht gewesen – wäre beinahe dabei ertrunken. Meine damalige Begleitung habe ich seit 2000 nicht mehr gesehen; auch diese Wege verliefen sich zwischen Zeit und Raum und verblassten im Leben; trotzdem sind manche Dinge geblieben: Das Café hat noch den Charme von früher.

Mein Blick schweift umher; ich blicke durch den Wintergarten nach draußen; sehe wie die Bedienung des Cafés Kissen draußen verteilt und denke, dass es eigentlich zu kühl für diese Jahreszeit ist. Meine Augen folgen draußen meinen Gedanken; sie ziehen umher; dann stoppe ich. Mein Blick fällt auf das Mahnmal für Widerstand und Zivilcourage auf Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Er – der adelige Wehrmachtsoffizier – hatte vor mit dem Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 der ungebremsten Unmenschlichkeit von Krieg, Elend und verbrannter Erde eine Ende zu setzen. Kaum 24 Stunden später fand er selbst den Tod; er wurde hingerichtet; das Attentat misslang. Den Namen Stauffenberg kennt fast die ganze Welt; spätestens seit der Verfilmung: Operation Walküre – Das Stauffenberg-Attentat mit Tom Cruise. Dieser Blockbuster meißelte den Name Stauffenberg in die Köpfe der Menschen. War er ein Held? Mut und Zivilcourage hatte er; aber würde sich Stauffenberg selbst im Nachgang als Held sehen? Die Konsequenz seiner Tat und die hohe Wahrscheinlichkeit des Scheiterns sind ihm bewusst gewesen. Wie viele Helden mussten im Laufe der Geschichte scheitern? Wie viele Heldennamen sind unbekannt? Unzählige. Ich schaue zurück und denke über die Begegnung mit einem guten Freund von mir – Dr. Liese – nach; er erzählt gerne Geschichten von früher; vom zweiten Weltkrieg und danach. Sein Großvater war vielleicht auch ein Held, vielleicht ein stiller; ein erfolgreicher vielleicht. Als damals während des zweiten Weltkrieges der Befehl kam, dass er zum Volkssturm nach Berlin reisen und dort antreten muss, ergriff er die Flucht; er floh in den nahe gelegenen Wald und versteckte sich dort über Wochen und Monate. Mit Lebensmitteln wurde er von den Bauern aus den umliegenden Dörfern versorgt; auch sie hatten Mut: einen Fahnenflüchtigen zu unterstützen. Keiner erinnert sich heute an ihre Namen, sie sind vergessen. Der Großvater von Dr. Liese überlebte den Krieg – dank seiner Fahnenflucht, dank seines Mutes. Sein Bruder hatte auch Mut; vielleicht ist auch er ein Held gewesen; er folgte dem Befehl zum Volkssturm nach Berlin zu reisen. Drei Wochen später galt er als vermisst; bis heute weiß niemand, wo er gefallen ist, was mit ihm geschah.

Stauffenberg blickt mich immer noch an. »Widerstand aus moralischer Überzeugung / standrechtlich erschossen in Berlin / 21. Juli 1944«. So steht es auf der Gedenktafel, sie ist in den Boden eingelassen und liegt Claus Schenk Graf von Stauffenberg zu Füßen. – Vielleicht sind wir alle nur Spielbälle unseres Schicksals und wir müssen den vorgegebenen Weg folgen; Helden hinterlassen ihre Spuren; Helden erinnern uns daran, dass es auch noch höhere Werte gibt: Zivilcourage, für andere einzustehen, der eigenen Überzeugung zu folgen … Ich weiß nicht, ob ich den Mut von Stauffenberg gehabt hätte; ich weiß nicht, ob wir uns überhaupt nur im Ansatz vorstellen können, wie hoch der gesellschaftliche Druck damals gewesen ist. Die Medien sprachen mit der Stimme der Propaganda vom Endsieg; es war kein Endsieg, es ist überhaupt kein Sieg gewesen; vielmehr war es das Ende aller Menschlichkeiten. Dennoch gab es Stauffenberg und auch den Großvater von Dr. Liese; der Großvater muss damals gesagt haben: Bei diesem Irrsinn mach ich nicht mit. Und er floh in den Wald. Nein zu sagen erfordert Mut; ganz besonders im damaligen Naziregime. Diesen unbekannten Helden, den Großvater von Dr. Liese, habe ich jetzt aus der Dunkelheit des Vergessens für einen kurzen Augenblick in das Scheinwerferlicht dieser Kolumne gehoben. Held oder doch Feigling? Wir können uns kein Urteil erlauben. Wir können nicht mal im Ansatz die damaligen Zeit nachempfinden; jede Überlegung von uns gleicht einer Trockenübung aus dem Wohlfühlparadies. Aber vielleicht könnten auch wir ein klein wenig Held sein; wir könnten Immanuel Kants Aufruf im Alltag und im Leben folgen: »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.« Vielleicht kommt wieder die Zeit; wo sich zeigen wird, wer Held und wer Feigling ist. Heldentum hängt vom Zeitkontext und vom gesellschaftlichen Rahmen ab, der uns umgibt. »Heldentum ist Ausnahmezustand und meist Produkt einer Zwangslage.« (Theodor Fontane). Ich blicke auf Stauffenberg; ich glaubte ein Lächeln in seinem Gesicht erkannt zu haben.

Fortsetzung folgt …

S.

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