Der Freytag: Zank am Zaun

Dampfend steht der Kaffee vor mir; ich gieße langsam und vorsichtig die Milch in die Tasse und beobachte, wie sie sich mit dem tiefschwarzen Kaffee vermischt; es erinnert mich an Yin und Yang und daran, dass das Dunkle flüchtig, nie von Dauer ist und am Ende die Wahrheit über die Lüge, das Recht über das Unrecht siegt. Es ist Freitag und ich sitze in meinem Lieblingskaffee. Mein Blick schweift zum Nachbartisch. Eine Mutter streitet lautstark mit ihrem Kind; sie ziehen die Blicke des Kaffees auf sich. Sie brüllt, das kleine Mädchen schaut schelmisch verdutzt. Die Kinderhände sind voll mit Marmelade. Vielleicht war dieser Griff der Auslöser des Streits? Das Maß ist sicht- und hörbar voll; die Mutter schäumt über; das Mädchen, streckt seine verschmierten Kinderhände in die Luft. – Wir sehen meistens nur Momentaufnahmen und kennen die gesamte Vorgeschichte nicht. Der Kopf der Mutter ist hochrot. – Will das kleine Mädchen nicht verstehen, warum es nicht mit dem Essen spielen darf? Es beginnt also bereits in der Kindheit: Wir streiten; jeder will recht haben und seinen Kopf durchsetzen.

»Wenn du im Recht bist, kannst du dir leisten, die Ruhe zu bewahren; und wenn du im Unrecht bist, kannst du dir nicht leisten, sie zu verlieren.« – Mahatma Gandhi. Ruhig blickt das Kind zu seiner Mutter und greift voller Genuss in die Butter, um sie am Kleid ihrer Mama abzustreifen. Das Mädchen nutzt einen kurzen Augenblick von Unachtsamkeit aus, während die Mutter eine Freundin begrüßt. Unschuldig blicken die Kinderaugen zur Mutter. Sie wendet sich ihrer Tochter zu; sie muss die butterweiche Berührung der Kinderhände am Körper gespürt haben. Ihr Kopf ist jetzt noch röter als zuvor, wie eine Tomate blinkt ihr Gesicht; sie schweigt. Sie überlässt der Freundin ihr Kind und verschwindet in Richtung Toilette. – Kinder loten ihre Grenzen aus; Eltern setzen Grenzen. Ich hatte viele Grenzen; die 18-Uhr-Grenze zum Beispiel. Es gab um sechs Abendbrot und ich musste Punkt 18 Uhr zu Hause zu sein und keine Minute später.

Letzte Woche traf ich im Garten zufällig Elisabeth, eine Nachbarin; sie erzählte mir völlig aufgelöst von ihrem Streit mit Alfons. Beide trennt ein Zaun und eine wildwüchsige Hecke voneinander; die Grenze ist klar gezogen – eigentlich. Doch Elisabeth und Alfons zanken sich. Alfons Hecke wächst wild und ragt an vielen Stellen auf das Grundstück von Elisabeth; er zeigt perdu kein Interesse und auch kein Verständnis für seine Nachbarin und denkt nicht daran, die Hecke zu schneiden und zu stutzen – seit Jahren. Jetzt führen stellvertretend Anwälte den Zank am Zaun fort. Bald trifft man sich vor Gericht – Justitia soll entscheiden. Elisabeth versteht die Welt nicht mehr – Alfons, Elisabeth und Horst, der Mann von Elisabeth, sind früher sehr gute und enge Freunde gewesen; sie kennen sich alle aus der Schulzeit und jetzt wird bald die Gerichtsbank gemeinsam gedrückt. Die Nerven liegen blank; das Guthaben auf dem Konto schwindet – Recht bekommt ist nicht umsonst. Ob dieser Streit am Ende umsonst war, das wird sich zeigen. Statista sagt, dass fast jeder zweite Deutsche schon einmal mit seinem Nachbarn stritt; Tendenz steigend; in den Jahren zuvor war es nur jeder Dritte und bei den Anwälten klingelt es auch weiterhin in den Kassen, sie arbeiten natürlich auch nicht umsonst.

Elisabeth und ich standen während unseres Gesprächs an einer anderen Grundstücksseite – uns trennt lediglich ein halbhoher Jägerzaun voneinander. Ich denke an Cicero: »Was zu Recht geschieht, ist nur dann selbst auch gerecht, wenn es freiwillig ist.« Wie freiwillig werden Elisabeth und Alfons Justitias Urteil nach der »Rechtsprechung« umsetzen? Wie gerecht werden beide Seiten das Urteil empfinden? – Vielleicht findet sich die Wahrheit – das Recht – in einem Kompromiss? Ich hörte von Elisabeth, dass die Fronten verhärtet sind. Ja, die Fronten. Wer sie zieht, befindet sich im Krieg – diese Schlacht wird ziemlich sicher vor Gericht geschlagen. Die Mutter kehrt von der Toilette zurück; ihr Gesicht ist nicht mehr rot und ihr Kleid wirkt sauber. Das Kind weinte während ihrer Abwesenheit und der Freundin gelang es nicht, sie zu beruhigen. Verheult blickt das kleine Mädchen zu seiner Mutter; sie lächelt, nimmt ihre kleine Tochter in den Arm, um sie zu trösten. Es herrscht Stille im Kaffee. Den Kopf auf die Schulter ihrer Mutter gestützt und vom wärmenden Arm getragen, schaut das Mädchen zu mir herüber und ich erkenne ein sehr erwachsenes, verschmitztes Lächeln im Kindergesicht.

Fortsetzung folgt …

S.

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