Der Freytag: Ge-Zielter Schaufensterblick ins Leben

»Ich höre, was du sagst, folgen kann ich dir nicht.« So André, ein alter Schulfreund, den ich zufällig an diesem Samstagvormittag in der Stadt treffe. Wir stehen beide in einem schönen alten Antiquitätenladen; vor dem Schaufenster wimmelt und wuselt das Leben; ameisengleich queren vielen Menschen unser Blickfeld. Jäger und Gejagte: Wie viele jagen hinter To-do-Listen her, um die To-dos nach Erreichen der Ziele abhaken zu können? Oder sind sie selbst getrieben und gehetzt von Listen, die sie antreiben? Ich frage André, ob er sich als Teil von dort draußen – vor dem Fenster – empfindet oder ob er sich als ein außenstehender Beobachter sieht. – Sein Gesicht signalisiert mir viele Fragezeichen. Ich hake nach: »Bist du der Meinung, dass du alles in deinem Leben beeinflussen kannst?« »Ja natürlich; alles, was ich mir beruflich vornahm, erreichte ich. In einigen Bereichen ging ich, musste ich Umwege gehen, so ist halt das Leben, aber im Großen und Ganzen habe ich meine gesteckten Ziele immer erreicht.«

Ich denke nach: Können wir wirklich alle Ziele erreichen? Sollten wir alle Ziele erreichen? Seth MacFarlane (Produzent und Schauspieler) hielt am 10. September 2001 einen Vortrag. Am nächsten Morgen, dem 11. September 2001, war sein Gate bereits geschlossen, als er am Flughafen ankam. MacFarlane hatte sein Ziel: Den Platz im gebuchten Flug einzunehmen, verfehlt; denn er war am Abend vorher mit seinen Teilnehmern nach dem Vortrag noch etwas trinken mit der Folge am nächsten Morgen: Zu spät am Gate, Flug verpasst. MacFarlane war ursprünglich für den Flug American Airlines AA-11 gebucht; diese Maschine krachte am 11.9.2001 in den Südtrum des World Trade Centers. Es war kein Unfall, sondern ein terroristischer Anschlag in New York, der die gesamte Welt veränderte. Ich kann mich noch sehr gut an den 11.9.01 erinnern; es war ein Dienstag; geschockt saßen wir nachmittags vor dem Fernseher, als die ersten Berichte aus NY eintrafen. Dieses Datum wird die Welt nicht mehr vergessen; auch MacFarlane wird dieser Tag in ewiger Erinnerung bleiben – seine zweite Geburt. Schicksal oder Zufall, das Seth MacFarlane traf? Auf jeden Fall: Ziel verfehlt und überlebt.

In der Grundschule sprach unser Pfarrer einmal vom Buch des Lebens; in dieser Schrift sei alles aufgezeichnet; der gesamte Lebensweg eines Menschen stehe bereits im Augenblick seiner Geburt fest. – Ob dieser Standpunkt seitens der Kirche eine gängige Glaubensauffassung war, konnte ich nie herausfinden; jedoch finde ich nach wie vor diesen Gedankenansatz sehr interessant und habe den Ausdruck: Buch des Lebens nie wieder vergessen. Wir stehen beide stumm im Landen und blicken an diesem Samstagmorgen durchs Schaufenster – ins Leben. Andrés Magen fängt laut an zu knurren. Ich denke an die kleine Brasserie um die Ecke; sie hat auch schöne Schaufenster nach draußen; auch dort kann man gut philosophieren. »Komm André, ich erzähle dir vom Buch des Lebens; gleich hier um die Ecke gelegen ist meine Lieblingsbrasserie – ich habe auch Hunger. Wollen wir gemeinsam was Essen gehen?« Alle Fragezeichen in seinem Gesicht sind verschwunden. »Klar; lass uns gehen, ich verpasse dann zwar meinen Zug zu meinen Eltern, aber ich kann auch umbuchen und etwas später fahren.« Wir beide verlassen den Laden – André folgt mir – und gehen schnurstracks zur Brasserie.

Fortsetzung folgt …

S.

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