Der Freytag: Stille Nacht – der Lärm der Zeit

Die Welt wird immer lauter; vielleicht merkt die Gesellschaft, dass ihr was fehlt? – Vielleicht die Orientierung?

In der Nachbarschaft hustet einer vor sich hin; natürlich lautstark. Die Menschen auf der Straße niesen, schnäuzen sich und sind neuerdings mit Bluetooth-Boxen unterwegs und beschallen dabei ihre Umwelt mit ihrer Lieblingsmusik; natürlich auch wieder lautstark. Diese Mitmenschen gehen scheinbar davon aus, dass jeder andere ihren Musikgeschmack teilt. – Leider habe ich bis heute noch kein einziges Klassikstück gehört – also meinen Musikgeschmack hat bis heute keiner dieser Freiluft-Boxen-Gänger getroffen. Ungezügelte Horden von Vergnügungssüchtigen trinken auf dem Trottoirs allabendlich ihr Bier oder ihren Wein und die Pegel steigen proportional mit der Anzahl der alkoholischen Getränke und auch dort wird’s lauter und lauter. Im Straßenverkehr wird’s auch nicht unbedingt ruhiger; es fahren zwar mehr und mehr Elektrofahrzeuge herum, aber der gefühlte Geräuschpegel steigt dennoch; die Jugendlichen müssen – wie früher auch – der Welt beweisen, wie stark sie sind und spielen freizügig mit den Gaspedalen und so mancher im gesetzteren Alter zeigt der Welt – natürlich lautstark -, wie er zu ihr steht: In allen Altersschichten wird es lauter und lauter.

Warum ist die Welt so laut geworden? Ich habe den Eindruck, es war noch nie zuvor so laut wie in diesem Sommer. Ich bin gerade auf dem Weg ins Kaffeehaus; gehe an diesem Freitagmorgen ganz gemütlich durch die Stadt. Viele Touristen sind ebenfalls bereits auf den Beinen und lauschen den Fremdenführern via Kopfhörer in ihren Landessprachen; hier geht’s – ausnahmsweise – etwas geräuschdisziplinierter zu. Hat uns Corona sensibilisierte für den Lärm um uns herum? Vielleicht ist’s nicht lauter geworden, vielleicht sind wir nur geräuschempfindlicher? Ich biege um die nächste Ecke; sehe zwei Hundebesitzer vor mir, deren Hunde sich ankläffen; beide »Hundeführer« haben Müh und Not ihre Vierbeiner in Schach zu halten – auch in der Tierwelt wird lautstark rebelliert.

Ich freue mich auf mein Stammkaffee – um diese Zeit bin ich oft der einzige Gast; im Kaffeehaus spricht die Kellnerin fast im Flüsterton und die Musikbox schweigt vor sich hin: ein Paradis für meine Ohren. Die nächste Straße ist fast menschenleer. Es ist ruhiger hier in diesem Teil der Stadt – eine Wohltat. Noch 400 m bis zur Eingangstür. Aus der Ferne nähert sich ein E-Roller; ein Mann im gesetzteren Alter steuert dieses Flüstergefährt; er gleitet zügig über den Asphalt und ich vernehme Musik; er ist auch befallen vom: Bluetooth-Umhänge-Boxen-Fieber; er nähert sich und ich höre seine Musik – auch er hört keine Klassik. Ich höre: »Der Mann ihrer Träume muss ein Bassmann sein, das Kitzeln im Bauch macht sie verrückt …«. Ich muss laut lachen und singe mit: »Sie mag Musik nur, wenn sie laut ist, wenn der Boden unter den Füßen bebt, dann vergisst sie, dass sie taub ist …«. Ich betrete mein Café. Es herrscht Stille; ich nehme Platz; folge dem E-Rollerfahrer, bis er aus meinem Sichtfeld verschwindet und summe innerlich – leise – mit: »Sie weiß nicht, dass der Schnee lautlos auf die Erde fällt, merkt nichts vom Klopfen an der Wand.«

Fortsetzung folgt …

S.

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