Der Freytag: Heiße Nächte in Palermo

Er sitzt im Café. Trinkt gedankenversunken seinen Cappuccino, der mit einer südländischen, lebensbejahenden Leichtigkeit frisch in diesem kleinen Café in Palermo serviert wurde. Das Interior ist verlebt, es atmet noch melancholisch die Luft der Vergangenheit. Die Kaffeefreude, das abgelebte Drumherum von diesem Ort des Augenblicks umschlingt wärmend sein Gemüt und beflügelt seine und die Seele aller anderen. Die Stimmung trägt – in Begleitung vom Klang des Preludes vom Parsifal – über diesen kostbaren Moment hinweg. Er floh in den Süden Europas, weit weg von der Parallelwelt im Norden, in deren Dunstkreis das Atmen immer schwerer fällt. Im Norden, in der weiten Ferne, versucht ein scheinbar übermächtiger, unsichtbarer Ungeist seiner Seele habhaft werden zu wollen; hier in Palermo ist er Mensch, keine Nummer – einfach Mensch. Alles ist weit weg; Europa ist fern. Am Ende Italiens, am Anfang einer neuen Welt.

Im Januar 1882 vollendet Wagner die Partitur zum Parsifal in Palermo. Erlösung dem Erlöser; Erlösung nur im Jenseits? Eine Frage, die lange im Cerebrum von Wagner herumgeisterte. Sie spukte, sie keimte förmlich auf in den schwachen Augenblicken des menschlichen Daseins, als das Nein-Sagen sehr schwerfiel und die Tat ohne ein Wort zu sprechen, das Ja unumstößlich bekundete; es waren die Momente der Reue, verbunden mit der Hoffnung nach Erlösung aus diesem schmerzvollen Kreislauf. Wagner ist musikalisch so groß, dass alle anderen im Schatten seiner Genialitätsgröße wie Einzeller unter dem Mikroskop wirken; fast chancenlos ihm gegenüber. Menschlich war er mehr als nur fehlbar und er selbst wusste dies auch allzu gut; er wusste diese Schwächen gekonnt durch Witz zu übertünchen; aber es gab diese immer wiederkehrende Momente der Besinnung mit dem Wunsch und der Hoffnung nach Erlösung. Parsifal ist der unumstößliche musikalische Beweis für die Ewigkeit, dass Erlösung auch im Diesseits möglich ist.

Der Palermo-Cappuccino dampft. Er sitzt unter vielen im Café und dennoch ist er alleine, aber nicht einsam. Die AirPods spielen noch das Prelude vom Parsifal, Herbert von Karajan dirigiert die Berliner Philharmoniker – eines der schönsten Préludes; mit 14 Minuten Spieldauer ausreichend lang, um der Welt für ein paar Minuten zu entrücken, um die Last des gesellschaftlichen Irrsinns wie einen viel zu schweren Rucksack für wenige Minuten abzulegen. Von der Welt des infantilen Irrsinns entkoppelt, durchdringen die Wagnerklänge jede Zelle des eigenen Ichs, das mit jeder Sekunde vom Prelude mehr zum eigenen Sein erwacht. Das Kaffeehaus entkoppelt; es wird zum musikalischen Rückzugsraum vor einer fremd gewordenen Simulationswelt, deren Ausschaltknopf immer noch von einer Wirklichkeitsillusion verdeckt wird. – Wagner: Das Übermenschliche ist hörbar. Mehr als 141 Jahre nach der Vollendung ist das Unterirdische überall sichtbar, so denkt er und Karajan dirigiert.

Das Orchester des Lebens spielt seine eigene Musik. Es klingt unhörbar wie die Zwölftonmusik. Es schmerzt in den Ohren, es sticht ins Herz, es lässt den Verstand verzweifeln; Menschsein im Zwölfton-Orchester gleicht einer inquisitorischen Folter. Es herrscht Stille im Raum; Karajan ruht und macht Platz für ein neues Dirigat. Das Noise-Cancelling der AirPods verrichtet vollumfänglich seinen Dienst. Nichts dringt an die zartbesaitete Innenseite seines Wesens. Wenige haben ihn jemals verstanden; obwohl sehr viel gesprochen und geschrieben wurde, so ist das Zarte im Inneren niemals nach außen getreten. Zuhören erfordert mehr als ein mathematisches, als ein analytisches Zuhören einer zwölftönigen Klimperei; es sollten sehr viele laute und leise Zwischentöne wahrgenommen werden.

Palermo, die Flucht gen Süden. Thielemann erklingt; er dirigiert das Bayreuther Festspielorchester – Der fliegende Holländer tönt: Act I: Ouverture; wieder etwas mehr als 10 Minuten Weltentkopplung. Die AirPods schneiden alles Restliche: Die Umwelt, alle Störgeräusche, all das Nervige, das Überflüssige vollends ab. Nur er, Wagner und Thielemann, ganz am Ende, am Ende Europas. Wagner floh vom Hafen in Pillau – ganz in der Nähe zur Kant-Stadt Königsberg gelegen – vor seinen Gläubigern und bestieg die Thetis, einen Schoner und das Leben und das Meer ließen ihn hautnah erleben, wie sich Todesangst anfühlt. Wagner alterte innerlich um Jahre, reifte gedanklich über Jahrhunderte während dieser stürmischen Überfahrt. Es war die Geburtsstunde des Fliegenden Holländers. Wagner überlebte; die Thetis ist nur neun Jahre später für immer vom Meer verschluckt worden. Die Ouvertüre klingt ganz langsam und entkoppelt vom Weltlichen zu Ende – die Flucht als Motiv, das Fluchtmotiv zieht sich durch den gesamten Opernverlauf. Der Palermo-Cappuccino entschwindet mit seinem letzten Schluck aus dessen irdischen, sichtbaren Daseins. Die AirPods schweigen; ihre Energie ist verbraucht; das Ausblenden der laut wirkenden Umwelt zollt seinen Tribut, es kostet immer Kraft und Anstrengung und egal, wie sehr er sich auch versucht zu bemühen, er ist Teil einer laut gewordenen Minderheitenwelt, die umso lauter klingt, umso weiter die Zeit in die Zukunft schreitet. Noise-Cancelling für die Welt wird es nicht geben, sie ist auch nicht erforderlich, denn alle akustischen Störquellen werden ebenfalls eines Tages verstummen; sie werden dasselbe Schicksal erleiden wie die AirPods – es wird ihnen bald an Energie fehlen, um weiter im Zwölfton-Orchester mitzuspielen.

Er verlässt spät abends sein Café und schreitet durch das alte Palermo zum Grand Hotel des Palmes; er stellt sich vor die Büste von R. Wagner in der Eingangshalle des Hotels, nickt ihm anerkennend zu und er weiß, dass Wagner es auch weiß.

Fortsetzung folgt …

S.

Der Freytag: DerFreytag.de