Johannes nimmt soeben Platz vor dem Gemälde: Weltgericht von Stefan Lochner im Wallraf-Richartz-Museum in Köln. Weich und bequem ist die Sitzbank, wenn auch ohne Lehne; das Anlehnen wäre jetzt eine Wohltat für seinen geschundenen Rücken: Fünf Stunden Museumsbesichtigung sind anstrengend; dennoch freut er sich über die Bank, wie ein kleines unschuldiges Kind. Warum sind Museumsbesuche immer anstrengend? Geistert durch seinen Kopf. Er erinnert sich an den letzten Besuch in Paris vor zwölf Tagen; es war ein zweitägiger Marathonlauf durch die Gemäuer des Louvre. Jetzt sitzt er in Köln und atmet durch. – Das Profane ist spürbar, das Sakrale nicht greifbar. Niemand sonst befindet sich mit ihm im Ausstellungsraum: Stille, nur die Klimaanlage surrt leise im Hintergrund. Die Kopfhörer vom iPod noch im Ohr – denn eine Etage tiefer floh er akustisch vor dem Tohuwabohu einer Reisegruppe aus Indien, die seinen Kunstgenuss zu blockieren versuchte. »Der Vogelfänger bin ich ja« (Die Zauberflöte, K. 620). Mozart klingt leise in seinen Ohren. Und so leicht wie der Vogelfänger singt, so erleichtert fühlt er sich jetzt. Die schwarzen Lederschuhe glänzen; sie drücken aber fast an jeder Stelle seiner Füße; sie sind neu und noch nicht eingelaufen. Wer schön sein will, muss leiden, denkt er sich. – Wozu all das Leiden im Leben? Christus, der Erlöser im Bild: Weltgericht, blickt zu ihm.
Stefan Lochner soll es angeblich um 1435 gemalt haben. Dies lässt sich nur indirekt anhand von Bemerkungen aus Albrecht Dürers Tagebuch von Einträgen aus dem Jahr 1520 herleiten. Dürer schrieb von einem Meister Stefan. Im Jahr der Entstehung des Gemäldes gab es nur einen Meister Stefan in Köln: Stefan Lochner. Die Experten sind sich jedoch immer noch nicht ganz sicher, ob es schlussendlich das Werk Lochners ist. Der Heiland sitzt im Zentrum auf einem Regenbogen, als der Richter über die Welt; die Hände zum Segen und zur Verdammnis ausgestreckt. Der iPod spielt: Toccata und Fugue in D Minor, BWV 565: I. Toccata von Johann Sebastian Bach ab. SDG – Soli Deo gloria – Gott allein die Ehre – schrieb Bach immer unter seine Werke. Den Blick auf das Gemälde gerichtet, springt das Geschehen vom Jüngsten Tag – nach der Apokalypse – aus dem Bild in die profane Gegenwart eines unwirklichen Augenblicks – der iPod spielt noch immer hingebungsvoll Bachs Toccata.
Links im Bild fällt der Blick auf die große Menge von Erlösten, die von Petrus im himmlischen Paradies empfangen werden; viele Engel schmücken glanzvoll diese Szene. Rechts im Bild: ein Anblick des Schreckens. Die Verdammten von Teufeln umzingelt, werden in den Hönnenschlund verschleppt. Hure, Völler, Prasser, Spieler und Trinker sind dargestellt. Johannes fallen drei Todesfälle aus seinem näheren Bekanntenkreis ein. »Plötzlich und unerwartet« stand bei allen drei Todesanzeigen in der Lokalpresse. Hannah war vor Kurzem 42 Jahre alt geworden und nur sechs Tage nach ihrem Geburtstag verstarb sie plötzlich. Sie hatte alles in ihrem Leben; ihre Luxus-Boutique lief hervorragend; sie und ihr Mann sahen auch blendend aus; auch wenn sie immer häufiger chirurgisch nachhalfen, um den Glanz der Jugend zu erhalten, sah man die Handschrift des Lebens weich, aber markant ins Gesicht gezeichnet. Im Augenblick des Todes soll das Leben wie in einem Spiegel noch einmal vor dem geistigen Auge vorüberziehen, ob das wohl stimmt? Überlegt Johannes. Teo: ein weiterer tragischer Fall aus dem Bekanntenkreis. Zuerst die Trennung von seiner Frau, dann die Scheidung; und zu guter Letzt der Sorgerechtsentzug für die beiden Kinder, die er über alles liebte. Die Folge dieser tragischen Verkettung der Ereignisse: Teo verfiel dem Alkohol. Mit knapp 66 Jahren schied er plötzlich aus dem Leben. Im volltrunkenen Zustand ist er auf dem Weg von der Tankstelle nach Hause im Kirchbach ertrunken. Ira – die Dritte im Bunde – verstarb ebenso plötzlich und unerwartet. Sie kam eines Tages frühzeitig und unangekündigt als Überraschung zu ihrem Mann nach Hause und erwischte ihn in flagranti mit einer anderen Frau – mit ihrer besten Freundin – beim Tête-à-Tête. Sie geriet dermaßen in Wut, sodass sie im Handgemenge mit ihrem Ehemann die Kontrolle verlor und vom Balkon des 13. Stocks in die Tiefe stürzte. Der Arzt konnte am Unfallort nur noch den Tod durch Genickbruch diagnostizieren.
Plötzlich und unerwartet! Sind die alten Meisterwerke vielleicht eine Ermahnung und eine Erinnerung zugleich an uns, die uns lehren, dass wir uns im Leben zügeln sollten? Spricht leise und fragend Johannes zu sich selbst. Vor sechs Jahren war er noch in Wien in der Akademie der bildenden Künste und stand dort vor dem Weltuntergangstriptychon von Hieronymus Bosch. Damals noch im Turnschuh und frei vom Schmerz an den Füßen war er noch unbeschwerter. Er erinnert sich, dass bei der Darstellung von Bosch die meisten Menschen nicht gerettet und nur wenige von Engeln ins himmlische Paradies getragen werden. – Ein »kleiner« Unterschied gegenüber Lochners Vision vom Jüngsten Gericht. Was wäre, wenn plötzlich und unerwartet das Weltgericht – das Jüngste Gericht – stattfindet; auf welcher Seite stünde er selbst in Lochners Darstellung? Links oder rechts? Johannes stellt sich diese Fragen. Der iPod spielt das nächste Lied: »Grosser Gott Wir loben Dich« (Jean-Paul-Lécot, Basilique – Feierliche Messe Lourdes).
Fortsetzung folgt …
S.
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