Der Freytag: Regen

Regen

Regen; ich liebe Regenstimmung; ich liebe den Klang von Regen – er befriedet die Welt. – Und unsere Welt sehnt sich nach diesem Regengefühl, nach familiärer Geborgenheit, nach warmen Regentropfen auf der dürstenden Seelen-Haut. Kurze Schauer spülen die Sorgen der Zeit hinfort; sie waschen den Geist frei von allen Nöten und entfesseln die Seele vom Staub der Vergangenheit. Im Regenschauer wird alles zu einer einzigen Gegenwart; das Jetzt zur vollendeten Form des Daseins. Die schönsten Regengüsse erlebte ich als Kind im Hochsommer in meiner Heimat; die Sommer sind noch lang und unbeschwert gewesen; die Schule war in weiter Ferne. Zur Mittagszeit skizzierten häufig am Horizont dunklengraue Wolken den nahenden Gewitterschauer vor. Das Grollen des Donners zog sich über Stunden hin; erst am späten Nachmittag fielen die ersten warmen Tropfen als kleine Hermes-Gewitter-Vorboten auf unsere erhitzten Körper herab; jeder von ihnen war wie ein lebensbejahendes Erwachen aus der Hitzeträgheit an schwülen Sommertagen. Diese Kindheits-Erinnerung – dieses Heimat-Gefühl – verblasste im Laufe meiner Jugend. Nie wieder war ich der Natur so nah.

Den heftigsten Gewitterschauer erlebte ich in den USA; 2006 in Washington; im Hochsommer bei 38 Grad im Schatten, die Hitze war kaum auszuhalten, die Sonne brannte. Am Spätnachmittag, beim letzten Besichtigungspunkt – beim Washington Monument – begann der Horror. Von allen vier Seiten zogen Gewitter auf und vereinigten sich zu einem Megaereignis; ein Feuerwerk von Blitzen entlud sich und Unmengen Wasser fluteten das Land. Der Potomac River war die irdische Verlängerung von Poseidons Dreizack; Wellen wie auf dem Atlantik spülten in Ufernähe alles weg, was nicht festgebunden war, Menschen flohen vor dem Zorn von Zeus auf höher Gelegenes in der Nähe und suchten Schutz. Bis zu diesem Tag hegte ich den Wunsch, einen Tornado im Mittlerer Westen der USA live zu erleben. Nach diesem Gewitter versickerte er im Boden wie ein Regentropfen im Death Valley in der Mojave-Wüste.

Ende August 2011 war ich wieder in New York; eine der schönsten Städte der Welt. Ich liebe es, diese Stadt zu erkunden, Fotos zu schießen; zig tausend Aufnahmen habe ich in meinen Archiven vom Big Apple gespeichert. NY kennt jeder; alle mögen diese Stadt. Max Frisch liebte sie ebenso wie Frank Sinatra – er sang eines meiner Lieblingslieder über sie: New York, New York. 2011 traf ich Irene. Es war an einem Samstag. Am Vormittag ist alles noch relativ normal gewesen, Manhattan war noch offen, alle U-Bahnen und Taxen fuhren. Aber ab Mittag war die Stadt im Lockdown; nichts ging mehr. Irene – ein Hurrikan – zog über uns hinweg. Diesmal erlebte ich das Schauspiel hinter einer riesigen Fensterfront aus dem 20. Stock in Brooklyn; es war ein gigantisches Naturschauspiel mit einem Sitzplatz in der ersten Reihe. Die Stadt war menschenleer. Mein Blick durchs Fenster auf die trostlose Leere im nass-grauen Dämmerlicht, auf die im Stark-Wind schaukelnden Straßenbeleuchtungen, verbunden mit dem lauten Schlagen vom Regen gegen das Glas ließen Gedanken an Noah und an die Sintflut vor meinem inneren Auge heraufziehen. In einer gefühlt sicheren Umgebung schwingt dennoch in jeder Sekunde die Unvorhersehbarkeit des nächsten Augenblicks mit; man weiß nie, wann das Ende naht, dennoch ist man gefasst und furchtlos – ein Zustand wie im Auge des Hurrikans, die Gedanken sind leer und frei.

Der Regen fällt, so sanft hernieder,
singt leise fremde Lieder;
die Tropfen fallen, sind zu schwer,
sind auf der Reise in das ferne Meer.

Fortsetzung folgt …

S.

Der Freytag: DerFreytag.de