Der Freytag: Der Gang vor die Hunde

Ein prophetisches Werk von Erich Kästner; vollendet im Jahre 1931; Zeilen zu einer irrsinnigen Zeit verfasst; kaum zwei Jahre später nahm der Irrsinn und der Wahn Gestalt an. Dr. Kästner habe ich total unterschätzt. »Emil und die Detektive« kennen die meisten. Aber »Der Gang vor die Hunde« – die Urfassung des Romans »Fabian« – kennen sehr viel weniger. Ich habe das Buch vor zwei Tagen zu Ende gelesen; aus meiner Sicht ein herausragendes Werk; ein Buch, das man gelesen haben muss. – Heute sprechen wir mal wieder über Literatur.

Zwischen Ende September 1930 und Ende Juni 1931 schrieb Kästner den Roman. Arbeitslosigkeit, Hunger und Not durchzogen die Gesellschaft in Deutschland. Ein politischer Umschwung lag in der Luft und wir können uns diese Zeit – knapp vor der Machtergreifung der Nazis – nur sehr schwer vorstellen. Kästner sah, ahnte das, was Deutschland bevorstand; er sah das Land am Abgrund stehen; seine Geschichte des Jakob Fabians, ein Germanist mit wechselnden Anstellungen und zum Schluss in Arbeitslosigkeit, lässt sich im Berlin Ende der 20er durch die Stadt und durch die Gesellschaft treiben, wie ein Blatt im Herbst auf der Wasseroberfläche. Eine satirische Übertreibung der Berliner-Zeit; unbändig an einigen Stellen – jedoch nur sehr kurzweilig – mit viel Herz, immer bis zu dem Moment, an dem schlagartig die gefühllose Brutalität des menschlichen Miteinanders zuschlägt. Der Mensch betäubt sich, flieht ohne Sinn und Verstand in die Arme radikaler Parteien, um dem kalten Irrsinn und dem damaligen Leben zu entfliehen.

1931 vollendete Kästner den Roman. Sein Lektor Curt Weller gratulierte den Schriftsteller und versicherte ihm, dass die Leserschaft erschüttert sein wird und prophezeite ihm heftige Angriffe und Kritik für sein Prosawerk. Weller bezeichnete Kästners Schrift geradezu als Menetekel: Eine unheilverkündende Warnung, einen ernsten Mahnruf, ein Vorzeichen drohenden Unheils; das war 1931; nur zwei Jahre später sollte sich das Menetekel Kästners erfüllen. Trotzdem verlangte der Lektor Kürzungen und Entschärfungen, die Kästner denn auch durchführte; wenn auch zähneknirschend. Die Anmerkungen seines Lektors sind durchaus nachvollziehbar. Kästner schrieb selbst in seinem »Nachwort für die Sittenrichter«: »Dieses Buch ist nichts für Konfirmanden, ganz gleich, wie alt sie sind. Der Autor weist wiederholt auf die anatomische Verschiedenheit der Geschlechter hin. Er lässt in verschiedenen Kapiteln völlig unbekleidete Damen und andere Frauen herumlaufen. Er deutet wiederholt jenen Vorgang an, den man temperamentloserweise Beischlaf nennt. Er trägt nicht einmal Bedenken, abnorme Spielarten des Geschlechtslebens zu erwähnen. Er unterläßt nichts, was die Sittenrichter zu der Bemerkung veranlassen könnte: Dieser Mensch ist ein Schweinigel. Der Autor erwidert hierauf: Ich bin ein Moralist!« – Dass der Moralist Fabian letztendlich selbst unter die Räder kommt, in einer unmoralischen Zeit, das ist natürlich Absicht. Erich Kästner wollte mit dem Roman warnen. Dr. Jakob Fabian geht genauso unter wie die Weimarer Republik. Er scheitert auf allen Ebenen: Die Beziehung zu der Frau, die er liebt, scheitert; sein bester Freund bringt sich um wegen eines dummen Neiders: Fabians Welt wird zu einem einzigen Jammertal.

Kurzer Einschub – Sekundärliteratur: Das Buch »Februar 33« half mir, um die Wirren der Zeit von damals besser zu verstehen. Uwe Wittstock, der Autor, hat sehr eindrücklich niedergeschrieben, wie durch die Machtergreifung Hitlers das ruhm- und glanzvolle Leben der Weimarer Republik ein abruptes Ende erfuhr und Nazideutschland entstand. Am 30.1.1933 wurde Hitler Reichskanzler und die Welt veränderte sich dramatisch; nur vier Wochen später sind alle Grundrechte mittels Notverordnung außer Kraft gesetzt. »Februar 33« schildert, wie die Luft zum freien Atmen für T. Mann, E. Lasker-Schüler, B. Brecht immer dünner und die Lebensumstände immer gefährlicher wurden.

Von März 1933 bis Oktober 1933 veranstalteten das Hitler-Regime die landesweit stattfindenden Bücherverbrennungen. Auch Kästner zählte zu den indizierten Autoren. Er war Zeuge der Verbrennung seiner eigenen Bücher am Berliner Opernplatz. »Und im Jahre 1933 wurden meine Bücher in Berlin, auf dem großen Platz neben der Staatsoper, von einem gewissen Herrn Goebbels mit düster feierlichem Pomp verbrannt. Vierundzwanzig deutsche Schriftsteller, die symbolisch für immer ausgetilgt werden sollten, rief er triumphierend bei Namen. Ich war der einzige der Vierundzwanzig, der persönlich erschienen war, um dieser theatralischen Frechheit beizuwohnen. Ich stand vor der Universität, eingekeilt zwischen Studenten in SA-Uniform, den Blüten der Nation, sah unsere Bücher in die zuckenden Flammen fliegen und hörte die schmalzigen Tiraden des kleinen abgefeimten Lügners. Begräbniswetter hing über der Stadt. Der Kopf einer zerschlagenen Büste Magnus Hirschfelds stak auf einer langen Stange, die, hoch über der stummen Menschenmenge, hin und her schwankte. Es war widerlich. Plötzlich rief eine schrille Frauenstimme: ›Dort steht ja Kästner!‹ Eine junge Kabarettistin, die sich mit einem Kollegen durch die Menge zwängte, hatte mich stehen sehen und ihrer Verblüffung übertrieben laut Ausdruck verliehen. Mir wurde unbehaglich zumute. Doch es geschah nichts. (Obwohl in diesen Tagen gerade sehr viel zu geschehen pflegte.) Die Bücher flogen weiter ins Feuer. Die Tiraden des kleinen abgefeimten Lügners ertönten weiterhin. Und die Gesichter der braunen Studentengarde blickten, die Sturmriemen unterm Kinn, unverändert geradeaus, hinüber zu dem Flammenstoß und zu dem psalmodierenden, gestikulierenden Teufelchen. In dem folgenden Jahrdutzend sah ich Bücher von mir nur die wenigen Male, die ich im Ausland war. In Kopenhagen, in Zürich, in London. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, ein verbotener Schriftsteller zu sein und seine Bücher nie mehr in den Regalen und Schaufenstern der Buchläden zu sehen. In keiner Stadt des Vaterlands. Nicht einmal in der Heimatstadt. Nicht einmal zu Weihnachten, wenn die Deutschen durch die verschneiten Straßen eilen, um Geschenke zu besorgen. – Erich Kästner: Kennst du das Land, in dem die Kanonen blühen? – Auszug aus dem Vorwort ›Bei Durchsicht meiner Bücher.‹« (Wikipedia)

Nur ein Jahr nach Kriegsende erschien die Neuauflage von »Fabian« und Kästner schrieb im Vorwort: »Der Moralist pflegt seiner Epoche keinen Spiegel, sondern einen Zerrspiegel vorzuhalten. Die Karikatur, ein legitimes Kunstmittel, ist das Äußerste, was er vermag. Wenn auch das nicht hilft, dann hilft überhaupt nichts mehr. Daß überhaupt nichts hilft, ist keine Seltenheit. Eine Seltenheit wäre es vielmehr, wenn das den Moralisten entmutigte. Sein angestammter Platz ist und bleibt der verlorene Posten. Ihn füllt er, so gut er kann, aus. Sein Wahlspruch heißt: Dennoch!«

Dennoch und erst recht! Für mich zählt »Der Gang vor die Hunde« zur Weltliteratur; ein Buch, das man gelesen haben sollte. Auch der Anhang im Buch ist lesenswert: Nachwort des Herausgebers zur Entstehung des Romans, zur politischen und satirischen Dimension des Romans. Erich Kästner – ich habe dich unterschätzt. Denn eigentlich wollte ich das Buch nicht lesen; meine Frau Bettina hat Fabian gelesen, wir haben uns über Kästner und seine Werke ausgetauscht, Bettina ist auf die Urfassung »Der Gang vor die Hunde« gestoßen: Gehört, gekauft, gelesen. – Kästner hallte bei mir auf meiner inneren Leinwand immer noch nach; die Zeit zwischen 1900 und 1945 interessiert mich seit ich denken kann und die Frage: Wie konnte all dies geschehen ist fest damit verbunden. Bis heute kann ich nur im Ansatz nachvollziehen, was geschah, wie es geschah und warum es geschah. Darüber gäbe es noch sehr viel zu schreiben und auszutauschen; für heute sei abschließend gesagt: Dr. Kästner, ich habe Sie unterschätz.

Fortsetzung folgt …

S.

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