Ich sitze im Café; es regnet; das nasse Indian-Summer-Laub bedeckt den Gehweg und der Geruch der feuchten Herbstblätter dringt bis zu mir an meinem Tisch; er vermischt sich zu einem herbstlichen Kaffee-Tee-Frühstücksdunst und verblasst zwischen zahlreichen Damen- und Herrendüften im Raum. Die Menschen sprechen viel, sagen aber wenig; ich höre ein wildes Durcheinander – Gleichklang, Randnotizen gehen verstummend unter – Kaffeehausgesellschaften ein Spiegelbild von draußen; es regnet. Ein Kind weint. »Eines Morgens riechst du den Herbst. Es ist noch nicht kalt; es ist nicht windig: es hat sich eigentlich gar nichts geändert – und doch alles.« Kurt Tucholsky.
Ich schaue ziellos in Gedanken versunken durch die große Glasfassade. Menschen ziehen vorüber; amorph, ohne Gesicht und ihre Gestalten vermengen sich mit der Umgebung; ab und an sticht ein kunterbunter Regenschirm aus dem Grau-in-Grau heraus – auch er verblasst hinter dem Horizont. Der Sommer zieht gen Süden; er hat seine Koffer gepackt und macht Platz für den Herbst. Ich denke an früher. Das Leben, wie schnell die Tage vergehen. Gerade war noch Frühling gewesen; jetzt spüre ich den Herbst. Die Jahre vergehen – immer schneller und schneller? Und auch wenn die Zeit uns oft gnädig war, so ist sie gleichzeitig erbarmungslos; was gewesen ist vorbei. Ich denke an die vielen Regentage; es regnet. Ich sitze allein in meinem Lieblingscafé und die Zeit steht still. »Gewöhnliche Menschen überlegen nur, wie sie ihre Zeit verbringen. Ein intelligenter Mensch versucht, sie auszunutzen.« Arthur Schopenhauer.
Ein paar Jugendliche schlendern am Caféhausfenster vorbei; sie lachen unbeschwert, keiner von ihnen hat einen Regenschirm. In jungen Jahren handelt man und denkt sehr viel weniger nach; im Alter kehrt sich diese Kombination mehr und mehr um. Ich denke nach; es regnet. Ich schlage mein Skizzenbuch auf; blättere ziellos in ihm herum. Auf einer Seite mitten im Buch sticht mir ein Satz ins Auge: »Fern von Zeit und Raum – jeder Text hat seine Zeit; jeder Gedanke seinen Ort; jeder Mensch seinen Raum.« Diesen Satz schrieb ich in diesem Sommer – 2023 – als ich in Weimar im Kaffeehaus gewesen bin. Vielleicht hat auch jeder Mensch seinen Ort? »There are only two places in the world where we can live happy: at home and in Paris.« Ernest Hemingway.
Es ist nur eine Zahl: 2023; aber jede Jahreszahl hat auch ihre ganz eigene und sehr individuelle Bedeutung – Assoziation. Für manche ist es das Geburtsjahr; für einige ein Schicksalsjahr, wenn sich schlagartig im Leben etwas Großes verändert; der Zeigerausschlag ist immer in beide Richtungen möglich. – Keiner weiß, wann und wo das Schicksal zuschlägt. Für die Mehrheit wird es ein Jahr wie jedes andere auch; formlos, nur die Zeit schreitet voran. Ich blättere weiter in meinem Skizzenbuch zurück. Am 28. August 20222 notierte ich: »Never complain, never explain.« So lautet die PR-Strategie des britischen Königshauses. Am 8. September 2022 verstarb Elisabeth II. »Die Königin ist tot, lang lebe der König.« Draußen vor dem Café regnet es noch immer. »Stelle dich dem Regen entgegen, laß die eisernen Strahlen dich durchdringen, gleite in dem Wasser, das dich fortschwemmen will, aber bleibe doch, erwarte so aufrecht die plötzlich und endlos einströmende Sonne.« Franz Kafka.
»Immer wenn es regnet muss ich an dich denken / Wie wir uns begegnen, kann mich nicht ablenken / Nass bis auf die haut so stand sie da / Um uns war es laut und wir kamen uns nah / Immer wenn es regnet muss ich an dich denken / Wie wir uns begegnet sind und kann mich nicht ablenken / Nass bis auf die haut so stand sie da / A-N-N-A« klingt es im Café; Natalie, eine der Bedienungen drehte soeben den Lautstärkeregler der Musikanlage hoch; sie lächelt und grooved mit. Ich denke an meine Studentenzeit; mein Studium begann auch im Oktober. Das Laub war bereits von den Bäumen gefallen; der Sommer hatte seine Koffer schon lange gepackt; es roch überall nach dem nassen Laub. Ich wohnte in einer alten Villa aus dem 19. Jahrhundert; hinter dem Haus war ein kleines Waldstück und ich roch sehr oft bei geöffnetem Fester den Wald; ganz besonders ist mir der nasse Herbstlaubgeruch in Erinnerung geblieben. Es war 1999, A-N-N-A von Freundeskreis war gerade ein Jahr alt; ich mochte das Lied, ich höre es im Moment wieder; draußen regnet es; ich erinnere mich an die erste Woche im Studium; ich stand auf meinem Balkon, blickte in den Wald, es roch nach nassem Laub und es regnete und ich hörte im Hintergrund Freundeskreis – A-N-N-A: : youtube.com/watch?v=qtVa-BwoZsU
Fortsetzung folgt …
S.
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