Der Freytag: Das Nischendasein der Worte

»Die trigonometrische Interpunktion.«, »Meine eigene Kopernikanische Wende.«, »Die Stelzenläufer durch den eigenen Schlamm.«, »Die Messer, die die Welt durchschneiden.«, »Das dichterische Sprechen entspricht dem Wandeln auf Treibsand«., »Der Trost der Worte unter dem Herzschlag gehärtet.« Fragmente, Wortmosaike, die ich aus den letzten Poetikvorlesungen an der Uni mitnahm. In diesem Sommersemester besuche ich die Vorlesungen des Lehrstuhls für Neue deutsche Literaturwissenschaften und ich fühle mich den Studenten verbunden; bin selbst wieder einer, so wie damals vor vielen Jahren im Studium. Es webt ein universitärer Geist in den Räumen, der sich angenehm anfühlt und der zusammenführt – uns Zuhörer für wenige Stunden in der geistigen Cloud des kleinsten gemeinsamen Nenners mit dem Namen: Poetikfaszinierte verbindet. Es gibt sie doch, die Bereich, die uns miteinander vereinen, anstatt zu trennen. Für uns Lyrikfreunde trägt dieser verbindende Ort die Bezeichnung: Raum 00.25.

Alles benötigt einen Rahmen, einen Platz, um verortet zu werden; wir Menschen verstehen gerne die Dinge, die wir hören, die Begebenheiten, die wir sehen. Woher kommt meine Faszination für die deutsche Sprache und Lyrik? So genau weiß ich es selbst auch nicht. Es ist eine Art innerer Motor, ein unsichtbarer Antrieb, der aus dem Nichts kommend, vor ein paar Jahren anfing zu wirken. Es war 2010 in Bonn am Schreibtisch. In einem Anfall von Entrückung schrieb ich meine erste Lyrik und seit diesem Augenblick läuft der Prozess und treibt mich an. Er ließ mich zahlreiche Autoren näher kennenlernen und navigierte mich in den Hörsaal zur Poetikvorlesung. Und obwohl die Lyrik ein Nischendasein in Deutschland führt, Romane und Krimis ein größeres Publikum erfreuen, bin ich seit 2010 selbst ein begeisterter Leser und Freund der Dichtung.

In der letzten Vorlesung hörte ich vom Lyriker Wulf Kirsten, den ich noch nicht kannte. Und wie man eben als Hobbystudent ist, gleich am nächsten Tag in die Buchhandlung (nicht in die Bibliothek, da ich gern die Bücher besitze, die ich lese) und: erdlebenbilder / Wulf Kirsten / Gedichte aus 50 jahren / 1954-2004 gekauft. Den Band zum ersten Mal in der Hand und wie ich es immer mit neuen Büchern handhabe, schlage ich zufällig eine Seite auf und lese:

DER MENTOR

wie sie mit ihren krückstöcken
sinnlos im sand herumstochern,
wenn die bretterne madame
in schwarzer korsage
ihre aufzucht, die tölpel in holzschuhn,
sonntags zur messe treibt
wie der viehhändler seine schlachtochsen.
im beutel sechs centimes, das betstuhlgeld.
immer nur kirchenlatein und fromme sprüche
aus der grüngebundenen bibel.

Schön, oder? Wer diese Zeilen liest, der denkt nach. Das Denken nach dem Lesen von Lyrik ist ein unvermeidbarer Vorgang; die Stimuli leben zwischen den Buchstaben, hinter den Versen und wirken auf den Betrachter, der durch sie nicht zu vermeiden zum Denker wird. Deutschland wird das Land der Dichter und Denker genannt. Ich sehe großes Potenzial, dass wir es wieder schaffen, diesen Titel zurecht zu tragen. Wenn ich mir die Menschenmasse in der aktuellen Poetikvorlesung vor Augen führe, die Tatsache auf mich wirken lasse, dass es immer noch sehr viele gibt, die am geschriebenen Wort interessiert sind; wenn ich in Buchhandlungen stehe und um mich herum blicke und ich von vielen Gleichgesinnten umgeben bin, die meine Literaturbegeisterung teilen; wenn ich Lesungen besuche, wie die vor wenigen Wochen mit Prof. Dr. Heribert Prantl, freut sich mein Innerstes, dass die Menschen nach wie vor Lust auf Lesen und Interesse für die Autoren besitzen. Mich stimmen diese Tatsachen positiv und ich möchte fast eine Renaissance für die Dichter und Denker am Horizont heraufziehen sehen. Wer liest, der denkt; wer sich Poetik zu Gemüte führt, der fühlt und denkt umso mehr. Die Neo-Renaissance der Lyrik im Land ist unvermeidbar; es gleicht nur noch einer Frage der Zeit.

S.

Der Freytag: DerFreytag.de