Der Freytag: T. versus B. und wie Narziss, der nur sein eigenes Spiegelbild sieht und nichts anderes wahrnimmt!

Wer macht das Rennen? »Bücher sind der gespeicherte Reichtum der Welt und wahres Erbe der Geschlechter und Völker.« (Henry D. Thoreau, Walden, S. 102). Und weiter: »Noch nie haben die Menschen bisher die Werke der großen Dichter gelesen; denn nur große Dichter können sie lesen.« (Henry D. Thoreau, Walden, S. 103). Es mag etwas arrogant klingen, was Thoreau schreibt; aber vielleicht hat er doch damit recht. Der Kreis der Lyrikleser ist viel kleiner als das Feld, auf dem die Prosa spielt. Dichtung ist verdichtete Wahrheit; allerdings codiert und nicht in Klartext verfasst. Dennoch frage ich mich, wie viel Klartext vertragen wir noch? Kann Deutschland Klartext?

»Bei den Soldaten drunten
Ist auch mein Freund dabei.
Ich hab ihn nicht rausgefunden.
Es ist auch einerlei.«
(Bertolt Brecht, Gedicht: Soldatengrab, 1. Strophe)

Das Soldatische kehrt zurück; die Sprache wird mehr und mehr militarisiert; das Undenkbare wird gedacht, das Unaussprechliche klingt leise durch; ein militärischen Schargong hallt in Europa durch die Hallen der Demokratien und das stimmt sorgenvoll. Aber wie viel Klartext wollen und können wir noch – hören? B. Brecht, auch ein Bayer, war direkt und im Umgang mit der Sprache ein Virtuose; Klartext ist sein zweiter Vorname gewesen: »Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht.« (Bertolt Brecht). Jeder Widerstand beginnt mit der Fähigkeit, Klartext hören zu wollen und diesen ertragen zu können.

Klartext: Thoreau vs. Brecht? Oder doch Trump vs. Biden? Die vergangene Woche war ereignisreich. Das TV-Duell zwischen Trump und Biden hat die Medienwelt erschüttert und viele sehen bereits mögliche Auswechselspieler am Spielfeldrand. In den Medien liest man die wildesten Theorien. Auf dem politischen Parkett herrscht alles andere als Gelassenheit; in ein paar Wochen werden wir mehr wissen – wärmt sich vielleicht Michelle Obama bereits auf? Es wird viel gemunkelt.

Julian Assange kam frei. Die Meldung kam wie aus dem Nichts; plötzlich war er frei und flog zurück in seine Heimat Australien, Down Under; und ich muss jetzt an den Song: »Down Under« von Men At Work denken. – Unser Gehirn und seine Assoziationen, ein seltsames Spiel, wie viele Spiele auch anderorts sehr seltsam wirken. – Erleben wir derzeit eine Epidemie der Klartextparallaxen?

Eigentlich verspüre ich wenig Motivation, über Politik zu schreiben. Warum sollte ich den zweiten Cervantes spielen und den Don Quijote mimen? Die Welt ist polarisiert; die Fronten sind verhärtet und werden zu Granit. Die Sprache wird wie eine Waffe gegenüber Andersdenkenden verwendet und wir sind alle häufig mit dem Spiel überfordert, das uns gezeigt wird. Klartext will keiner mehr hören; wir sind Klartexttraumatisiert und ob wir uns bereits im Endstadium befinden und wahrheitstraumatisiert sind, wird sich noch herausstellen.

Ich verstehe viele Dinge nicht; verstehe einfach nicht, dass vieles unmöglich geworden ist. Wie zum Beispiel die Suche nach gemeinsamen Lösungen; das sich aufeinander zu bewegen und miteinander sprechen, wie es früher in diplomatischen Kreisen üblich war. Ich verstehe nicht, warum wir das nicht mehr können. Die Unfähigkeit, Klartext hören zu können, wurzelt tief in den Gesellschaften.

»Noch nie haben die Menschen bisher die Werke der großen Dichter gelesen; denn nur große Dichter können sie lesen.« (Henry D. Thoreau).
Genauso mag es vielleicht den Damen und Herren aus der Politik gehen, wenn sie die Werke der großen Dichter läsen; sie könnten nach der Überlegung von Thoreau diese Werke nicht verstehen, denn es geht hier um mehr als nur um das Können. Für mich klingt die Thoreau-Formel nach einer Gegenwartsgleichung, die unser aller Leben bestimmt; wir sind einfach nicht mehr in der Lage, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen, geschweige denn die Dinge jenseits des Wohlfühlradius zu verstehen.

Brecht schreibt über seinen verstorbenen Soldatenfreund. Er – Brecht: 1898-1956 – hat sowohl den Ersten als auch den Zweiten Weltkrieg miterlebt und wusste aus erster Hand, wie mächtig Sprache ist. – Wie man sie in Kriegszeiten »gebrauchen« kann. Viele Freunde und Bekannte aus dem Kreis von Brecht nahmen am Ersten Weltkrieg teil.

Gegenwärtig singen wir wieder ganz leise – aber bestimmt – die Marschmusik des alten Kriegsleierkastens. Die Drehorgel dreht sich und die Stalinorgel heult bestimmt auch bald wieder kräftig mit zur Marschmusik; allerdings die Version des 21. Jahrhunderts. Ob es die BM-21 Grad (ein sowjetisches bzw. russisches Mehrfachraketenwerfersystem) oder die HIMARS (High Mobility Artillery Rocket System; ein modernes Raketenwerfersystem der US-Armee) sein wird, das herumjault? Preußens Gloria ist schon lang’ verklungen und ich hoffe nicht, dass die Schar von Soldaten erneut zum Badenweiler-Marsch allerorts aufmarschiert; inmitten von Europa. »Noch nie haben die Menschen bisher die Werke der großen Dichter gelesen; denn nur große Dichter können sie lesen.« (Henry D. Thoreau, Walden, S. 103). Vielleicht sollen die Menschen sich zumindest wieder bemühen, die Werke der großen Dichter zu lesen. Deutschland, das Land der Dichter und Denker könnte damit beginnen.

»Ich bin ein Kind des Friedens und will Friede halten für und für mit der ganzen Welt, da ich ihn einmal mit mir selbst geschlossen habe.«
(Johann Wolfgang von Goethe: 1749 – 1832; gilt als einer der bedeutendsten Repräsentanten deutschsprachiger Dichtung. Quelle: Goethe, Italienische Reise, 1786-88, auf der Grundlage der Reisetagebücher überarbeitet 1813-17. 2. römischer Aufenthalt 1787/88)

Mir fielen ein paar Gedichte von J. W. v. Goethe ein, die anstatt der durch die Klartextparallaxen verzerrten Reden im Bundestag gehalten werden könnten. »Frieden ist mehr als die Abwesenheit von Krieg.« (Martin Luther King Jr.).

S.

Der Freytag: DerFreytag.de

Anmerkung: Das Titelbild dieser Kolumne zeigt die Szene von Narziss, wie er nur sein eigenes Spiegelbild sieht und nichts anderes wahrnimmt.

Narziss, wie er nur sein eigenes Spiegelbild sieht und nichts anderes wahrnimmt.