Der Freytag: 1994 und als der Kaffee noch Tee war

Ich sitze im Kaffeehaus und trinke – vielleicht ausnahmsweise? – einen grünen Tee und denke nach. Die vergangene Woche war etwas hektisch; wieder ein Tango auf unterschiedlichen Deadlines. Als ich einen Text schrieb, ging mir der Kaffee aus – eine Katastrophe und die Läden hatten bereits seit Stunden geschlossen. Tango tanzen kann ich nur mit Kaffee, dachte ich. Nach Herumsuchen in der Wohnung und dem Herumkramen in den Schubladen fiel mir eine Packung grüner Tee in die Hände; der Tee war bereits zwei Jahre über dem Verfallsdatum. Es geht mir beim Kaffeetrinken nicht primär um den Kaffee, vielmehr geht es darum, etwas Heisses zu trinken; wenn ich scheibe, brauche ich das. Auch heisses Wasser steht manchmal neben mir auf dem Schreibtisch; in China ist es üblich und ganz normal, heißes Wasser zu trinken; im Westen ist Kaffee der Standard – außer heute bei mir. In meiner großen Not hab’ ich den Tee trotz des überschrittenen Verfallsdatums getrunken.

Diesmal ging ich nicht konform mit der Mehrheit: ich goss den grünen Tee auf und nach den vorgeschriebenen drei Minuten Ziehzeit entfernte ich den Teebeutel und beendete sein Wasserbad. Der erst Schluck: Ich bin erschrocken; ein unbeschreiblicher Genuss entfaltete sich in meinem Mund und berührte alle meine Sinne – ich war hin und weg vom Teegeschmack. Dann fing ich an, darüber nachzudenken, warum der Tee diese Geschmacksexplosion hervorrief. Ob es daran lag, dass er sein Verfallsdatum schon seit Langem überschritten hatte? Kurzum, ich ging am nächsten Tag gleich früh morgens in den Laden, um denselben Tee noch einmal zu kaufen. Auch dieser Grüntee sprach für sich – ein echter Genuss. Jetzt sitze ich im Kaffeehaus und trinke auch wieder einen grünen Tee – er schmeckt hervorragend. – Mir scheint, dass sich im Alter auch der Geschmackssinn ändert; der Sinn für Geschmack ändert sich auf jeden Fall und auch die Wahrnehmung scheint sich im Lauf des Lebens zu verändern – ich kann fast nur noch BR-Klassik hören, die normalen Radiosender sind unhörbar für mich geworden.

Damals, 1994, als ich mich auf die Hochschulreife vorbereitete, trank ich fast ausschließlich Tee – liebte den Weißen oder einen guten Oolong aus Taiwan. Kaffee ist mir viel zu bitter gewesen. Damals war das Leben noch süß, unbeschwert und der Kaffee hätte mich dann wohl doch zu sehr aus meiner lieblich weichen Welt gerissen. 1994 war das Lied: »I Swear« von All-4-One lange in den Charts. Ich denke an: »By the moon and stars in the sky / I’ll be there / I swear«. Dann folgte die Bundeswehrzeit; ich begann mit dem Rauchen und mit dem Kaffeetrinken und der Mond und die Sterne sind viel zu oft von Wolken verdeckt gewesen; die Schwüre sind im Strudel der Zeit verblichen und vergessen worden. Jetzt trinke ich wieder häufiger grünen Tee; der Mond und die Sterne leuchten auch wieder regelmäßiger in der Nacht. Auch grüne Tees verändern mit der Zeit ihren Geschmack – nach mehr maligen Aufbrühen verlieren sie ihre Bitternis. »Tee hat nicht die Arroganz des Weines, nicht das Selbstbewusstsein des Kaffees, nicht die kindliche Unschuld von Kakao. Im Geschmack des Tees liegt ein zarter Charme, der ihn unwiderstehlich macht und dazu verführt, ihn zu idealisieren.« (Laozi, auch bekannt als Laotse).

Fortsetzung folgt …

S.

Der Freytag: DerFreytag.de

Auch publiziert auf: https://www.ganjing.com/news/1fqsgli536c5BKmYy77jGDLis12l1c/der-freytag-1994-und-als-der-kaffee-noch-tee-war