Der Freytag: Vom Stacheldraht der Seele

Eine Betrachtung über Mauern, die fallen, und solche, die in uns weiterleben

Es gibt Daten, die sich in das kollektive Gedächtnis brennen wie Brandmale auf der Haut der Geschichte. Der 13. August 1961 ist ein solches Datum. An jenem Sonntag vor über sechs Jahrzehnten begann der Bau jenes Monuments der Unmenschlichkeit, das wir heute schlicht „die Mauer“ nennen – als gäbe es nur eine einzige, die es wert wäre, so benannt zu werden.

„Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!“ Diese Worte Walter Ulbrichts vom 15. Juni 1961 sind zu einem Synonym für die Verlogenheit politischer Versprechungen geworden. Plötzlich stand sie da. Ganz schnell wurde aus dieser Unwahrheit ein in Beton gegossenes Faktum. Bereits zwei Monate nach Ulbrichts Aussage war Baubeginn. Was folgte, waren 28 Jahre deutscher Teilung – eine Zeit, in der ein Land lernen musste, mit einer Narbe durch seine Mitte zu leben.

Das Spiel mit dem Stacheldraht

Die Geschichte der Mauer ist auch die Geschichte von Axel, einem Jungen, der das zweifelhafte Privileg besaß, seine Kindheit im Schatten des Todesstreifens zu verbringen. Als Sohn eines Bundesgrenzschutz-Beamten wuchs er auf der Westseite auf, dort wo die Freiheit begann und gleichzeitig an ihre sichtbarsten Grenzen stieß.

In den achtziger Jahren, als die Kinderzimmer noch nicht von Bildschirmen und Plastik dominiert wurden, suchten Kinder ihre Abenteuer in Wäldern und auf Feldern. Axel und seine Freunde hatten einen besonderen Spielplatz: einen Wald, durch den ein Stück der innerdeutschen Grenze verlief. Sie integrierten die Beobachtungstürme der DDR-Grenztruppen in ihre Spiele, bewaffnet mit den Feldstechern ihrer Väter und Großväter.

Was für sie ein Spiel war, war für andere bitterer Ernst. Sie malten sich wilde Geschichten aus, wie sie als Elitesoldaten die Türme überfallen würden, und sinnierten darüber, wie es wäre, auf der anderen Seite der Mauer zu leben. Manchmal tauchten andere Kinder hinter dem Stacheldrahtverhau auf – Augenblicke, die Axel eine innere Beklemmung bescherten. Er sah die Freudlosigkeit der Ost-Kinder deutlich durch sein Fernglas und wurde selbst traurig.

Die Kinder riefen hinüber in den Osten, hofften auf eine Reaktion – vergeblich. Auch die Grenztruppen antworteten nie. Es schien, als befände sich zusätzlich zu dem Stück Stahlbeton auch noch ein gewaltiger unsichtbarer Lärmschutz zwischen Ost und West. Ein Schweigen, das lauter war als jeder Schrei.

Die Straße der Schikanen

Als Axel älter wurde und die Mauer noch immer stand, erlebte er sie aus einer anderen Perspektive. Der Pate hatte eine Freundin in West-Berlin gefunden, und so fuhr die Familie über die Transitautobahn durch die DDR. Es war eine Fahrt durch ein anderes Deutschland, ein Deutschland der Kontrolle und des Misstrauens.

Die Trabis und Wartburgs überholten das West-Auto – kleine Siege des Sozialismus auf der Autobahn. Der Vater war angespannt: bloß nicht auffallen, genau 100 km/h, nicht mehr. Es war eine bedrückende Fahrt, ein Durchrütteln auf Betonplatten, die Überfahrt schien unendlich. Ein unerlaubtes Verlassen der Autobahn war strikt verboten, Rasten nur an den Transitstätten erlaubt – Orte, wo Ost und West aufeinandertrafen und die Stasi allgegenwärtig war.

Die Rückfahrt brachte eine Episode, die Axel bis heute nicht vergessen hat. Er musste dringend austreten, doch am Grenzübergang bildete sich eine endlose Schlange. Minuten wurden zu Stunden. Er konnte nicht aussteigen, die Familie bangte mit ihm. Das Gefühl von Freiheit und Erleichterung, als sie endlich wieder im Westen angekommen waren und auf dem ersten Parkplatz hielten, ist unvergesslich geblieben. Es sind oft die kleinen Dinge, die in besonderen Umständen zu großen Symbolen werden.

Die Kälte des Systems

Doch die Mauer war mehr als nur Beton und Stacheldraht. Sie war ein System, das Menschen zu Nummern degradierte, das Familien zerriss und Träume zerstörte. Jörg K. erlebte die ganze Brutalität dieses Systems am eigenen Leib. 1979 wollte er seinem Freund in Jena regimekritische Bücher schenken – ein Akt der Freundschaft, der zu einem Alptraum wurde.

Sechs Monate Verhörterror durch die Stasi, völlige Isolation im Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen, endeten mit einer Verurteilung zu fünf Jahren Haft. Für Bücher. Für den Wunsch, Gedanken zu teilen. Das Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen war eine Verhörfabrik, ein Ort, der die Kälte und Unmenschlichkeit des Systems verkörperte.

Die Aufarbeitung dieser Zeit bleibt schwierig. Wer überlebte, lebt mit inneren Narben. Angst zerstört Seelen, erlebte Willkür hinterlässt tiefe Spuren. Angst war und ist ein Instrument der Herrschaft, das seit Jahrhunderten genutzt wird, um Gesellschaften zu lenken. Eine wachsame Gesellschaft muss ihre Sinne schärfen, um zu verhindern, dass sich solche Zeiten wiederholen.

Hannah Arendt erkannte: „Will man die Menschen daran hindern, dass sie in Freiheit handeln, so muss man sie daran hindern, zu denken, zu wollen, herzustellen, weil offenbar all diese Tätigkeiten das Handeln und damit auch Freiheit in jedem, auch dem politischen Verstande, implizieren.“

Der Tag, an dem die Mauer weinte

Der 9. November 1989 war ein Tag wie kein anderer. Die Felder und Wälder waren leicht vom Schnee bedeckt, es war der Geburtstag von Axels Tante, und die Familie saß bei Kaffee und Kuchen beisammen. Es lag bereits in der Luft, was in der folgenden Nacht in die Geschichtsbücher eingehen sollte.

Nach dem Kaffeetrinken fuhr die gesamte Familie zur Grenze. Es wurde viel gemunkelt, die Öffnung lag förmlich in der Luft, aber es war noch nicht offiziell. Als sie ankamen, sahen sie etwas, was sich Axel bereits als Kind sehnlichst gewünscht hatte: Diesseits und jenseits der Mauer standen sich Menschen – Ost und West – winkend und rufend gegenüber. Es waren noch langsame, aber herzliche Schritte der Annäherung. Eine freudige Aufbruchsstimmung lag in der Luft. Alle hatten Tränen in den Augen.

Man kann sich diese Zeit nur schwer vorstellen, wenn man sie nicht selbst miterlebt hat – die Zeit der Öffnung. Es lag Freiheit und Frieden in der Luft. Die Mauer, die 28 Jahre lang Deutschland teilte, begann zu bröckeln, nicht nur physisch, sondern auch in den Herzen der Menschen.

Von Mauern und Brücken

Mindestens 140 Menschen starben an der Mauer, jeder einzelne Tod ein Zeugnis für den unbändigen Wunsch nach Freiheit. Das letzte Maueropfer war Winfried Freudenberg, der am 8. März 1989 beim Absturz eines Ballons über West-Berlin starb. Der letzte DDR-Bürger, der beim Fluchtversuch erschossen wurde, war Chris Gueffroy, ermordet am 5. Februar 1989 in Berlin-Treptow von DDR-Grenztruppen.

Diese Namen sind mehr als Statistik. Sie sind Erinnerung daran, dass Freiheit kostbar ist und dass Menschen bereit sind, alles zu riskieren, um sie zu erlangen. Klaus Kordon hat in seinem autobiografischen Roman „Krokodil im Nacken“ die inneren Kämpfe eines DDR-Bürgers nach einem missglückten Fluchtversuch geschildert. Die Überwachung durch den Staat, die Auswirkungen auf die Familie – ein bewegendes Werk über Freiheit und Unterdrückung. Oft blieb der Wunsch nach Selbstbestimmung ein unerfüllter Traum.

Die Wiedervereinigung der Herzen

Axel, der Grenzgänger von Kindesbeinen an, erlebte auch seine ganz persönliche Wiedervereinigung. Er hätte sich nie vorstellen können, dass die Mauer eines Tages fallen würde. Heute ist er mit Angela verheiratet, einer waschechten Thüringerin. Er schwärmt von Leipzig, Dresden, Halle, Jena und Weimar – Städte, die er seit dem Mauerfall mehrfach besucht hat. Weimar, als Zentrum der deutschen Dichter, Musiker und Denker, ist für ihn ein Kulturgut ersten Ranges.

Das Schicksal meinte es gut mit Axel. Seine Geschichte zeigt, dass aus der Trennung Verbindung werden kann, aus Feindschaft Liebe, aus Mauern Brücken. Der Fall der Mauer war nicht nur ein politisches Ereignis, sondern auch ein zutiefst menschliches – die Befreiung von künstlichen Grenzen, die Menschen voneinander trennten.

Die Lektionen der Geschichte

Wenn wir heute an den 13. August 1961 denken, denken wir nicht nur an Beton und Stacheldraht. Wir denken an die Lehren, die dieser Tag und die 28 Jahre danach uns hinterlassen haben. Die Mauer war ein physisches Symbol für die Teilung, aber sie war auch ein Symbol für das, was geschieht, wenn Ideologien wichtiger werden als Menschen.

Bert Brecht schrieb: „Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen.“ Diese Worte könnten auch für unsere Betrachtung der deutschen Teilung stehen. Viele Fragen bleiben offen, viele Wunden sind noch nicht geheilt.

Die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit bleibt schwierig und komplex. Es gibt Opfer auf verschiedenen Seiten, und man muss differenzieren. Juristisch denken wir an Fälle wie den von Günter Schabowski, der von Ferdinand von Schirach im sogenannten „Politbüro-Prozess“ verteidigt wurde und für seine Mitverantwortung an der Erschießung von DDR-Flüchtlingen verurteilt wurde.

Die Mauern von heute

Am 3. Oktober feiern wir den Tag der Deutschen Einheit. Damals lag Frieden in der Luft, Deutschland ging in Europa mit weisen Schritten voran und festigte den Frieden zwischen Ost und West. Heute, über drei Jahrzehnte nach dem Fall der Mauer, müssen wir uns fragen: Haben wir die Lektionen gelernt?

Axel sagt heute: „Es ist an der Zeit, keine neuen Mauern zwischen uns Menschen zu bauen. Das Gebot der Stunde sollte lauten: Geht aufeinander zu, baut keine neuen Mauern!“ Diese Worte haben eine zeitlose Aktualität. Denn Mauern entstehen nicht nur aus Beton. Sie entstehen in den Köpfen, in den Herzen, in den Vorurteilen.

Die physische Mauer ist gefallen, aber die Mauern in den Köpfen sind hartnäckiger. Sie manifestieren sich in Misstrauen, in Vorurteilen, in der Unfähigkeit, dem anderen zuzuhören. Sie entstehen, wenn wir vergessen, dass hinter jeder politischen Überzeugung, hinter jeder Ideologie ein Mensch steht.

Der Stacheldraht der Seele

Die wahre Tragödie der Mauer lag nicht nur in ihrer physischen Präsenz, sondern in dem, was sie in den Menschen anrichtete. Sie schuf einen Stacheldraht der Seele, der auch nach ihrem Fall weiterexistierte. Viele Ostdeutsche fühlten sich nach der Wiedervereinigung wie Fremde im eigenen Land, ihre Biografien entwertet, ihre Erfahrungen ungewürdigt.

Die Mauer hatte nicht nur Deutschland geteilt, sondern auch die deutsche Seele. Die Wiedervereinigung war ein politischer Akt, aber die Heilung der seelischen Wunden dauert Generationen. Es ist ein Prozess, der Geduld, Verständnis und vor allem die Bereitschaft erfordert, einander zuzuhören.

Helmut Schmidt sagte einst: „Lieber 100 Stunden umsonst verhandeln, als eine Minute schießen.“ Diese Worte haben heute eine besondere Relevanz. In einer Zeit, in der Verhandlungen scheinbar keine Option mehr sind und die Diplomatie der Annäherung in weite Ferne rückt, sollten wir uns an die Kraft des Dialogs erinnern.

Die Macht der Erinnerung

Ein Stück der echten Berliner Mauer aus dem Jahr 1989 erinnert Axel an seine Kindheit, an die unbeschwerten Tage im Wald und an die Unwirklichkeit dieser Mauer, die Deutschland einst teilte. Es ist wichtig, dass solche Erinnerungen bewahrt werden, nicht als Museum der Vergangenheit, sondern als lebendige Mahnung für die Gegenwart.

Geschichte darf nicht vergessen werden. Die Geschichten von Menschen wie Axel und Jörg K. sind Bausteine einer kollektiven Erinnerung, die uns davor bewahren soll, die gleichen Fehler zu wiederholen. Sie erinnern uns daran, dass Freiheit nicht selbstverständlich ist und dass sie geschützt werden muss.

Das Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen steht heute als Gedenkstätte. Besucher können durch die Zellen gehen, in denen Menschen wie Jörg K. monatelang isoliert wurden. Es ist ein Ort, der die Kälte und Unmenschlichkeit des Systems verkörpert, aber auch ein Ort, der zeigt, dass Menschen selbst unter extremsten Bedingungen ihre Würde bewahren können.

Die Brücken von morgen

Wenn wir heute des 13. August 1961 gedenken, sollten wir nicht nur zurückblicken, sondern auch nach vorn. Die Mauer ist gefallen, aber die Arbeit ist nicht getan. In einer Zeit, in der neue Mauern entstehen – physische wie psychische –, müssen wir uns fragen: Was können wir aus der deutschen Geschichte lernen?

Die Antwort liegt in der Bereitschaft, Brücken zu bauen statt Mauern. Sie liegt in der Fähigkeit, dem anderen zuzuhören, auch wenn er anders denkt. Sie liegt in der Erkenntnis, dass Einheit nicht Einförmigkeit bedeutet, sondern die Akzeptanz der Vielfalt.

Axels Geschichte zeigt uns, dass aus Trennung Verbindung werden kann. Seine Ehe mit Angela, der Thüringerin, ist ein kleines Symbol für die große Wiedervereinigung. Es zeigt, dass Liebe stärker ist als Ideologie, dass menschliche Verbindungen Mauern überwinden können.

Das Vermächtnis der Freiheit

Die Mauer war ein Denkmal der Unfreiheit, aber ihr Fall wurde zu einem Denkmal der Freiheit. Sie erinnert uns daran, dass keine Mauer stark genug ist, um den menschlichen Wunsch nach Freiheit dauerhaft zu unterdrücken. Menschen wie Winfried Freudenberg und Chris Gueffroy starben für diese Freiheit. Ihr Opfer sollte nicht umsonst gewesen sein.

In einer Zeit, in der autoritäre Tendenzen weltweit zunehmen, ist die Erinnerung an die deutsche Teilung wichtiger denn je. Sie zeigt uns, wohin es führt, wenn Ideologien über Menschlichkeit gestellt werden, wenn Kontrolle wichtiger wird als Vertrauen.

Die Geschichte der Mauer ist auch eine Geschichte über die Macht der Hoffnung. Selbst in den dunkelsten Stunden, wenn die Trennung unüberwindbar scheint, gibt es Menschen, die an die Möglichkeit der Überwindung glauben. Es waren diese Menschen, die letztendlich die Mauer zu Fall brachten.

Schlussbetrachtung

„Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!“ Diese Worte Ulbrichts sind zu einem Symbol für die Verlogenheit der Macht geworden. Aber sie sind auch eine Mahnung: Mauern entstehen nicht über Nacht. Sie wachsen langsam, Stein für Stein, Vorurteil für Vorurteil, Misstrauen für Misstrauen.

Der 13. August 1961 ist ein Datum des Gedenkens, aber auch ein Datum der Mahnung. Es erinnert uns daran, wachsam zu bleiben gegenüber den Mauerbauern von heute. Denn Mauern können überall entstehen – in unseren Städten, in unseren Köpfen, in unseren Herzen.

Axel steht heute vor seinem Stück der Berliner Mauer und erinnert sich an die Kindheit im Schatten des Stacheldrahts. Seine Geschichte ist eine von vielen, aber sie ist auch ein Symbol für die Möglichkeit der Überwindung. Aus dem Kind, das über die Mauer hinwegsah, wurde ein Mann, der sie überwunden hat.

Die Mauer ist gefallen, aber ihr Vermächtnis lebt weiter. Es liegt an uns, die richtigen Lehren daraus zu ziehen. Es liegt an uns, Brücken zu bauen statt Mauern. Es liegt an uns, dafür zu sorgen, dass nie wieder eine Mauer durch Deutschland führt – weder aus Beton noch aus Vorurteilen.

Das ist das wahre Gedenken an den 13. August 1961: nicht nur zurückzublicken, sondern nach vorn zu schauen. Nicht nur zu erinnern, sondern zu handeln. Nicht nur zu mahnen, sondern zu hoffen. Denn am Ende siegt immer die Freiheit – wenn wir bereit sind, für sie zu kämpfen.

Sapere aude!

S. Noir