Der Freytag: Radfahren durch das Gedächtnis – Eine Spurensuche am Tag der Deutschen Einheit und ein Filmtipp: The Unrestricted War

Von Grenzgängen und neuen Mauern – durch die deutsche Seele geradelt

„Die Freiheit besteht darin, dass man alles das tun kann, was einem anderen nicht schadet.“ Mit diesem Satz definierte der französische Philosoph Matthieu de Montmorency einst die Grenzen individueller Freiheit. Während in Berlin an diesem 3. Oktober wieder Reden zum Tag der Deutschen Einheit geschwungen werden, stelle ich mir eine andere Frage: Wie viel von dieser Freiheit, für die 1989 Menschen auf die Straße gingen, ist heute noch selbstverständlich – und wie viel davon bereits wieder zur Disposition steht?

Der 1. Oktober 2025 war ein Tag von jener klaren Strahlkraft, wie sie der Herbst in Franken bisweilen bereithält. Bei goldenem Sonnenschein saß ich mit meinem Vater im Sattel unseres Fahrrads, unterwegs im ehemaligen Grenzgebiet meiner Heimat. Die Tour diente zugleich als kleine Vorbereitung auf unsere große Radtour im kommenden Jahr: 2026 wollen wir den Havelradweg bezwingen – so wie wir im vergangenen Jahr die 330 Kilometer lange Strecke des Saaleradwegs von Saalfeld bis zur Elbmündung in Barby gemeistert haben, eine Route, die vollständig durch das Gebiet der ehemaligen DDR führt.

Für mich war diese Tour weit mehr als sportliche Betätigung. Sie war eine Reise in eine Vergangenheit, die mir zugleich fremd und vertraut ist. Mein Vater diente beim Bundesgrenzschutz. Meine Kindheit und Jugend verbrachte ich unweit jener Grenze, die Deutschland teilte – die Zonengrenze war durch die räumliche Nähe und durch den Dienst meines Vaters omnipräsent in meinem Leben. Auch der geplante Havelradweg liegt fast vollständig auf dem Territorium der ehemaligen DDR, nur ein kurzer Abschnitt verläuft durch das Gebiet des alten Westens.

West und Ost – eine Topografie der Erinnerung

West und Ost – existieren diese Kategorien noch in unseren Köpfen? Bei manchen gewiss, vielleicht auch bei mir selbst, wenn auch in sublimierter Form. Die DDR ist für mich gedanklich präsent geblieben, nicht als nostalgische Reminiszenz, sondern als Studienobjekt. Literarisch beschäftige ich mich weiterhin intensiv mit dieser untergegangenen Welt. Mich treibt die Frage um: Wie war es dort wirklich? Wie fühlten sich Menschen in diesem totalitären Regime? Warum herrschte so lange ein bedrückendes Schweigen? Wie sah Widerstand im Kleinen aus, und was bewog Menschen dazu, vieles stillschweigend zu ertragen?

Diese Fragen sind keineswegs antiquiert. Sie ragen tief in unsere Gegenwart hinein. Ich beobachte, wie das Alte, was früher selbstverständlich zu unserer Gesellschaft zählte, zusehends wegbricht. Die Räume für offenen Diskurs lösen sich auf, Menschen ziehen sich zurück – eine Entwicklung, die an die Biedermeierzeit erinnert, jene Epoche des Rückzugs ins Private nach den gescheiterten Revolutionen des 19. Jahrhunderts. Erleben wir eine zweite Biedermeierzeit?

Die politischen Profile, wie ich sie aus früheren Jahrzehnten kannte, sind aufgeweicht. Aus meiner Sicht bewegen wir uns längst in Richtung einer Einheitspartei mit unterschiedlichen Etiketten. Was früher klar getrennt war – SPD, CDU, FDP –, gleicht heute einer Datenablage in der Cloud: Die Inhalte sind zwar noch vorhanden, doch bei genauer Betrachtung wirkt alles vage, formlos und konturenlos – nichts erscheint mehr konkret, nichts mehr greifbar.

Eine Fahrt durch das Grenzland

Am 1. Oktober also fuhren mein Vater und ich durch das ehemalige Grenzgebiet, radelten auf Teilen des alten Kolonnenwegs und drangen ins Hinterland vor, nach Thüringen. Auf dem Marktplatz von Sonneberg aßen wir eine Thüringer Bratwurst. Im ehemaligen Sperrgebiet pflückten wir einen Apfel vom Baum und verzehrten bei strahlendem Sonnenschein und unter blauem Himmel diese „Sündenfrucht“ – ein bewusster Akt des Gedenkens an die alte Zeit, als selbst das Pflücken eines Apfels hier lebensgefährlich sein konnte.

An vielen Stellen merkt man, dass man sich nicht mehr in Bayern, sondern auf dem Gebiet der ehemaligen DDR befindet. Die Architektur unterscheidet sich, selbst der Menschenschlag wirkt anders als in Franken. Doch – so seltsam es klingen mag – ich fühle mich im ehemaligen Osten oft wohler als im alten Westen. Die Menschen erscheinen mir offener, direkter, weniger von Konventionen eingeschnürt.

Ist das nur meine subjektive Wahrnehmung? Ich glaube, wer einmal ein System wie das der DDR erlebt oder in seiner unmittelbaren Nähe gelebt hat, entwickelt einen sensibleren Radar für politische Entwicklungen. Die Erfahrung von Unfreiheit – selbst indirekt – schärft den Blick für schleichende Erosionsprozesse in der Gegenwart.

Ein Film als Weckruf

Statt der üblichen Buchempfehlung möchte ich heute einen Film ans Herz legen, der thematisch hervorragend zum Tag der Deutschen Einheit passt: „The Unrestricted War“ aus dem Jahr 2025. (Link zum Film: https://www.ganjingworld.com/s/KYYDM71jQG)

Dieser Politthriller basiert auf wahren Begebenheiten während des frühen COVID-19-Ausbruchs und enthüllt, wie das kommunistische Regime Chinas kritische Informationen vertuschen ließ und Whistleblower zum Schweigen brachte – mit katastrophalen globalen Folgen. Die Geschichte folgt dem kanadischen Spitzenvirologen Jim Conrad, der ein Biotech-Projekt in China leitet, als er plötzlich von Geheimagenten verhaftet wird. Gezwungen, eine Probe seiner eigenen Forschung aus einem kanadischen Hochsicherheitslabor zu entwenden, gerät er ins Zentrum eines sich rasant ausbreitenden Ausbruchs. Während das Chaos eskaliert, muss er seine Liebsten schützen und einen Weg aus dem Land finden – bevor es zu spät ist.

Das gegenwärtige China wird von einem kommunistischen Regime beherrscht, das in seiner Struktur durchaus mit der DDR vergleichbar ist. Als ich den Film vor vier Wochen sah, war ich gefesselt. Er vermittelt eindrücklich das Lebensgefühl in totalitären Systemen – wie man sich als Individuum fühlt, wenn sich die Schlingen der Unterdrückung und Verfolgung zuziehen. Der Film ist fesselnd und regt zum Nachdenken an, ein ideales Werk für den Tag der Deutschen Einheit.

Die Fragilität der Freiheit

Vielleicht erkennen wir durch solche kulturellen Reflexionen, dass wir uns – zumindest im Moment – noch glücklich schätzen können, in einem weitgehend freien Land zu leben. Doch Freiheit ist kein Selbstläufer. Sie muss verteidigt, manchmal erkämpft werden. Ich bin zufrieden, nicht in der ehemaligen DDR gelebt haben zu müssen, und dankbar, dass mir das kommunistische Regime Chinas erspart geblieben ist.

Dennoch sehe ich Tendenzen, die uns bedenklich in diese Richtung ziehen. China weitet seinen Einfluss auf andere Länder systematisch aus – wirtschaftlich, technologisch, ideologisch. Die Methoden sind subtiler geworden, aber nicht weniger wirksam. Über diese neue Form des Autoritarismus ließe sich viel schreiben, doch das würde den Rahmen dieser Kolumne sprengen.

Am 9. November 1989 – dem eigentlichen Tag des Mauerfalls – war ich selbst an der Grenze. Es war ein historischer Moment: Ein ganzes Regime stürzte, scheiterte endgültig. Dieses Scheitern war vorprogrammiert, denn keine Diktatur ist auf Dauer haltbar, wenn sie sich gegen die Freiheitsbedürfnisse der Menschen richtet.

Doch Geschichte verläuft nicht linear. Die Freiheit von 1989 ist nicht automatisch die Freiheit von 2025. Jede Generation muss sie neu erringen, neu definieren, neu verteidigen. Die Frage ist nicht, ob wir freier sind als die DDR-Bürger damals – die Frage ist, ob wir wachsam genug sind, um schleichende Freiheitsverluste zu erkennen und ihnen entgegenzutreten.

Bleiben wir also wachsam. Schaut den Film  „The Unrestricted War“ an. Vielleicht rüttelt er wach. Vielleicht erinnert er uns daran, dass Freiheit das kostbarste Gut ist, das eine Gesellschaft besitzen kann – und das am leichtesten verloren geht, wenn man aufhört, um es zu kämpfen.

Sapere aude!

S. Noir


Der Freytag erscheint jeden Freitag als literarische Kolumne.