Der Freytag: Dichtung benötigt Distanz

Dichtung benötigt Distanz. Wer verdichten will, sollte Beobachter sein. Die Zeiten wiederholen sich, sagt man. Ich las das Buch Februar 33 von Uwe Wittstock, einem deutschen Literaturkritiker und denke immer häufiger über den Inhalt des Buches nach; sein Werk lässt uns Spätgeborene, diejenigen von uns, die die irren Zeiten in Deutschland nicht am eigenen Leib miterleben mussten, besser verstehen; begreifen, wie es zu dieser geschichtlichen Verirrung – Verwerfung – kommen konnte. Aus dem Blickwinkel einiger Schriftstellergrößen in Deutschland betrachtet, zeigte sich das drohende Unheil schon zu Beginn sehr deutlich, aber ich kann menschlich gut nachvollziehen, dass viele die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen verdrängt und an das Gute glaubten und dachten, dass es nicht so schlimm kommen wird, wie manche vermuteten.

»Es ging rasend schnell. Der Februar 1933 war der Monat, in dem sich auch für die Schriftsteller in Deutschland alles entschied. Uwe Wittstock erzählt die Chronik eines angekündigten und doch nicht für möglich gehaltenen Todes. Von Tag zu Tag verfolgt er, wie das glanzvolle literarische Leben der Weimarer Zeit in wenigen Wochen einem langen Winter wich und sich das Netz für Thomas Mann und Bertolt Brecht, für Else Lasker-Schüler, Alfred Döblin und viele andere immer fester zuzog.

Montag, 30. Januar. Joseph Roth will die Nachrichten, die der Tag bringen wird, nicht mehr in Berlin abwarten. Schon früh morgens fährt er zum Bahnhof und nimmt den Zug nach Paris. Thomas Mann in München derweil kümmert sich die kommenden zehn Tage kaum um Politik, dafür umso mehr um seinen Vortrag über Richard Wagner. Immer ganz dicht an den Menschen, entfaltet Uwe Wittstock ein Mosaik der bedrohlichen Ereignisse unmittelbar nach Hitlers ›Machtergreifung‹, die auch für die Literaten in Deutschland in die Katastrophe führten. Er vergegenwärtigt die Atmosphäre dieser Tage, die von Angst und Selbsttäuschung unter den Schriftstellern, von Passivität bei den einen und Entschlossenheit bei den anderen gezeichnet ist. Wer schmiegt sich den neuen Machthabern an, wer muss um sein Leben fürchten und fliehen? Auf der Grundlage von teils unveröffentlichtem Archivmaterial entsteht ein ungeheuer dichtes Bild einer ungeheuren Zeit.« (https://www.chbeck.de/wittstock-februar-33/product/32447676)

Lesen ist Fluch und Segen zugleich; das Denken lässt sich nicht mehr abstellen, wenn man viel liest. Ein fühlender und nachdenklicher, ein musisch-künstlerischer Mensch, der das Werk Februar 33 las, könnte wach und nachdenklich gestimmt sein. Zeiten wiederholen sich, sagt man. Dichtung benötigt Distanz? Vielleicht sind Zeilen, die mit innerer Distanz zum lyrischen Thema verfasst worden sind, einfach nur ein stink langweiliger Text. Text ohne Leben; Text ohne die Eigenschaft den Leser zu berühren. Wie viele Bücher mag es geben, die unberührt angelesen, wieder ins Bücherregal wanderten und jetzt einstauben? Goethe lese ich immer wieder gern’; er schrieb viel; er berührt – oft im positiven Sinn. Wer Februar 33 nicht lesen möchte, hier ein paar Zeilen zum Thema Abstand, Distanz – Ferne von J. W. v. Goethe; ein Auszug aus: Torquato Tasso; Goethe geht immer.

»Ach in der Ferne zeigt sich alles reiner,
Was in der Gegenwart uns nur verwirrt.
Vielleicht wirst du erkennen, welche Liebe
Dich überall umgab und welchen Wert
Die Treue wahrer Freunde hat, und wie
Die weite Welt die Nächsten nicht ersetzt.«

(4. Akt, 2. Szene, Leonore zu Tasso)

Fortsetzung folgt …

S.

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