»Wohin man blickt: ein einzig Tohuwabohu!« Michel kommt verspätet ins Kaffeehaus. Er war mit dem Zug unterwegs; quer durch Deutschland ist er gefahren. Kaum hingesetzt schimpft er drauflos. »Alles wird teurer; aber es scheint niemanden zu interessieren. Merken die alle überhaupt nicht, was hier los ist? Die Menschen sind wie Roboter; die Jugend starrt nur noch auf ihre Smartphones und die Medien machen uns alle nur noch blöder; sie verkünden Wirtschaftszahlen, die du vergessen kannst; es ist alles noch sehr viel schlimmer – wir stehen vor dem Abgrund. Ich hab‘, echt keine Lust mehr auf den ganzen Quark hier im Land.« Michel ist aufgewühlt. So habe ich ihn noch nie erlebt; er ist emotional wie ein Kind kurz vor Weihnachten – nur mit negativen Vorzeichen.
»Ich finde ja auch, dass wir schon bess’re Zeiten erlebt haben. Das Staccato der Zeit gleicht einem rasanten Pulsschlag; aber es wird auch wieder besser werden; nichts hat Bestand – nichts bleibt für immer so, wie es ist …« Michel unterbricht mich abrupt. »Du hast leicht reden; so lange ich dich kenne, kommst du mir immer mit deinem Seneca, Epiktet und Mark Aurel daher. Aber die helfen mir auch nicht weiter; letzte Woche musste ich endgültig die Insolvenz anmelden. Ich kann die ganze finanzielle Last, die explodierenden Energiekosten nicht mehr tragen. Das wird alles noch viel schlimmer. Dein blöder Stoizismus bezahlt nicht meine Rechnungen; er hilft mir auch nicht weiter.« Michels Kopf ist rot wie eine griechische Tomate. »Das tut mir sehr leid. Kann ich dir irgendwie helfen?« Michel schaut stumm zu mir; seine großen Augen verraten seine Hilflosigkeit. Beim Versuch, mir zu antworten, wird er vom Lärm am Nachbartisch blockiert: »Diese Herren in Berlin ruinieren uns alle; wenn die so weitermachen, dann gehen wir alle hops.«, fünf Mittfünfziger am Nachbartisch schimpfen lautstark und heftig.
Die Kaffeegenossen von gegenüber reden sich richtig in Rage. Meine kostbaren Stunden im Kaffeehaus; die habe ich mir heute anders vorgestellt; ich wollte schreiben; doch dann kam die unvorhergesehene Nachricht von Michel; er wollte unbedingt und sehr dringend mit mir sprechen. Jetzt sitze ich hier im Kaffeehaus; schreibe nicht, aber höre viel und es ist laut, einfach laut. Ich muss an ein Sprichwort aus Asien denken: »Sei vorsichtig mit deinen Wünschen, sie könnten in Erfüllung gehen.« Letzte Woche klagte ich einem Arbeitskollegen mein Leid, dass ich das Gefühl habe, gar nicht genau zu wissen, was in der Gesellschaft vor sich geht; dass mir der Kontakt zum normalen Menschen in der Gesellschaft fehlen würde; ich in meiner eigenen Blasenwelt zu leben scheine. – Heute werde ich keine leichte Prosa schreiben; aber ich bin mittendrin; höre, was vor sich geht; bin unfreiwilliger Zaungast einer hitzigen Lagebesprechung. Am Nachbartisch steigt die Zahl an sonnengereiften Tomaten. »Ökowahnsinn« ist das nächste Wort, das unüberhörbar zu mir durchdringt.
Ich fühle mich heute irgendwie unwohl im Café. Das Telefon von Michel klingelt; er spricht schnell und leise; er legt auf. »Ich muss jetzt leider schon wieder weiter. Mein Anwalt will mit mir sprechen. Ach so, das habe ich dir auch noch nicht erzählt: Birgit will sich jetzt scheiden lassen. Ich melde mich Morgen noch mal bei dir. Dann erzähle ich dir alles. Kannst du vielleicht meine Rechnung mit übernehmen?« »Klar. Du hattest doch nur einen Kaffee.« »Dank dir. Ich melde mich.« So blitzartig wie er angeschossen kam, so schnell war er auch wieder verschwunden. Die Genossen von der Front am Nachbartisch gleichen mehr und mehr den Politoffizieren und mir wirds hier langsam ungemütlich. – Ich mag ja in der Regel ein leichtes Grundrauschen im Kaffeehaus; das hilft mir sehr beim Schreiben; es entspannt; lenkt etwas ab und unterstützt beim sanften Modellieren der Texte; aber heute ist mir dieses Tohuwabohu einfach zu viel des Guten. Ich denke an Seneca: »Es ist nicht zu wenig Zeit, die wir haben, sondern es ist zu viel Zeit, die wir nicht nutzen.« Ich nutze meine Zeit; gehe ein Kaffeehaus weiter. Dort ist es ruhig. Ich blicke auf das alte wunderschöne Rathaus gegenüber und denke an einem großen Stoiker, an Epiktet: »Wir müssen die Dinge, die in unserer Macht stehen, möglichst gut einrichten, alles andere aber so nehmen, wie es kommt.«
Fortsetzung folgt …
S.
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