Der Freytag: Im Narren-Zug volle Fahrt voraus

»TEE-Zug«

Er schreibt gegen einen unsichtbaren Geist an; so müssen sich viele in der Geschichte gefühlt haben: Brecht, Mann, Kästner, Huchel… Und trotzdem ist er selbst Teil des Ganzen; Fahrgast im TEE-Zug der »feinen« Gesellschaft – und das Drama nimmt seinen weiteren Verlauf; den Schicksalsweg folgend wie auf Schienen, und unausweichlich schlittert der Zug der Endstation entgegen: Sackbahnhof voraus – oder ists der Abgrund? Im Speisewagen spielt die Musik und es klingt wie: L’uomo dell’armonica von Ennio Morricane – Spiel mir das Lied vom Tod! Es gibt Schampus, vermischt mit Arroganz, Ignoranz, Hohn und Spott aus dem großen Selbstbedienungs-Futtertrog. Die stinkende Brühe, durchtränkt mit verbalen Entgleisungen, verfeinert und verstärkt durch die Verachtung gegenüber allen anderen, ergießen sich über alle anderen in der 2. Klasse. Die warnenden sorgenvollen Fahnenschwinger am Bahnsteig rufen lautstark gegen den rasenden Zug: Haltet an; Abgrund voraus!

Die Überheblichkeit der Schampustrinker, bestehend aus einer Ansammlung von realitätsfremden Möchtegern-Tonangebern, nimmt abgeschottet von der 2. Klasse groteske Züge an. Er sitzt vis-à-vis – zwar selbst auch im Speisewagen – ist aber beschämt über seine unfreiwilligen Begleiter; wie Kobolde grölen sind fernab von Anstand und Sitte lärmend herum. Er denkt an Reinhard Mey und dessen Song: Das Narrenschiff. »Der Steuermann lügt, der Kapitän ist betrunken / Und der Maschinist in dumpfe Lethargie versunken / Die Mannschaft lauter meineidige Halunken / Der Funker zu feig’ um SOS zu funken / Klabautermann führt das Narrenschiff / Volle Fahrt voraus und Kurs auf’s Riff«

Der Zug fährt volle Fahrt voraus. Er schreibt wie wild in sein Notizbuch; immer mit einem Blatt, einer Schicht der Verschleierung, zwischen seinen Gedanken und den Zeilen, die das Licht der Öffentlichkeit erblicken. Er kann schon lange nicht mehr offen das schreiben, was geschrieben werden müsste; sein Herz, sein Verstand diktiert das Wort, er zensiert sich selbst durch diesen eigenen inneren Lektor; er glaubt, es würde zu viel Irritation erzeugen, wenn das ungefilterte Substrat in Wort und Satz gemeißelt wird. Der Verständlichkeitsrahmen schrumpft zusehends rapide; der Mißverständlichkeitshorizont rückt immer näher; alles unterliegt einer Selbstzensur.

Schweißgebadet wacht er auf; es war nur ein Traum. Der Radiowecker holt in zurück; es tönt:

«Der Steuermann lügt, der Kapitän ist betrunken
Und der Maschinist in dumpfe Lethargie versunken
Die Mannschaft lauter meineidige Halunken
Der Funker zu feig’ um SOS zu funken
Klabautermann führt das Narrenschiff
Volle Fahrt voraus und Kurs auf’s Riff«

Er stellt den Radiowecker aus, »canceld« den Appell von Reinhard Mey (Das Narrenschiff); schlüpft schlaftrunken in seinen Morgenmantel und denkt an das Höhlengleichnis von Platon; er denkt an die antike Philosophie und stellt sich selbst die Frage: Was ist Aufrichtigkeit, was ist Wahrheit?

Fortsetzung folgt …

S.

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