Was macht die Biene auf dem Meer? Rainer Kunze: 1933 im Erzgebirge geboren, erlebte vier sehr unterschiedliche politische Variationen von Deutschland hautnah mit: den Nationalsozialismus, die DDR, die BRD – in die er noch zu Lebzeiten der DDR 1977 übersiedelte – und aktuell das wiedervereinigte Deutschland. 1977 erschien auch der Lyrikband: Zimmerlautstärke, den ich schätze und zum Lesen in hohem Maß empfehle. Der Ton zwischen den Zeilen klingt nach Unterdrückung und Unfreiheit, teils vage, teils direkt und deutlich; wenn man versteht, Lyrik zu lesen und in Resonanz mit den Zeilen gehen kann, sich darauf einlässt, taucht man ein in eine Welt der Poesie, die am Rande zum Übergang zur damaligen Realität die schrecklichen Zustände eines DDR-Überwachungs-und-Unterdrückungs-Regime fühlbar macht. Ich schätze – liebe sogar – seine Gedichte. Er, der bodenständige Lyriker, der immer mit einem Fuß den Boden der ganz normalen Menschen berührt, das Profane kennt – vielleicht sogar schätzt -, hat trotz der Verfolgung in der DDR nie seine Positivität verloren: Er schreibt ehrlich und frei:
»ZIMMERLAUTSTÄRKE
Dann die
zwölf jahre
durfte ich nicht publizieren sagt
der mann im radio
Ich denke an X
und beginne zu zählen«
(Reiner Kunze / Zimmerlautstärke / Gedichte – Seite 38)
Wir alle sprechen häufig in Metaphern; jedoch sind die meisten von der Art, dass sie der Welt nichts Neues hinzufügen, denn ihre Essenz ist bereits da. Dem wahrhaften Lyriker gelingt es manchmal, diese Welt-Essenz zu erweitern; dem Sinnbild einzelne Elemente hinzuzufügen, die das Gesamte vervollständigen. Jede einzelne Aufnahme der temporären Sinnbilder in unserer Menschheitsgeschichte glich dem Zustand resultierend aus dem Anreichern oder Löschen von Sinnbild-Elementen im jeweiligen Zeit- und Gesellschaftskontext. – Theoretisch sind wir angehalten, uns alle in ruhigen Minuten selbst zu hinterfragen, in welchem Zustand sich das aktuelle Menschheits-Sinnbild befindet; wie viel Lebenskraft, wie viel Sinn noch in diesem poetischen Werk steckt, ob ein Nachzeichnen, vielleicht eine Restauration von Nöten ist.
Die Metapher ist vielleicht die stärkste schöpferische Kraft, die uns Menschen innewohnt und vielleicht gelingt es ihr unter den richtigen äußeren Umständen, sich in jedem von uns im Land der Dichter und Denker zu entfalten; sich wieder zu beleben, und vielleicht gehört auch die dichterische Einsamkeit auf Zeit dazu, sodass sich aus den Tiefen der inneren Sinnbilder unser individueller Metaphern-Strom bis zur Oberfläche unseres Seins, durch die unzähligen Schichten unseres Selbst hindurchbahnen kann. – Gehört die Einsamkeit zum Dichter? Vielleicht; vielleicht auf Zeit – und wenn es sich dabei nur um Sekunden oder Minuten handelt. – Gehört das Anecken zum Dichtertum? Vielleicht. Wenn jedoch der Metaphern-Strom mehr beinhaltet, zum Beispiel das Thema Liebe, kann ein Lyriker kaum anecken, er kann nur verzaubern und entführen ins Reich der Poesie. Über Liebe kann wirklich nie genug geschrieben und auch nie genug lesen werden; denn diese starke Kraft hat das Potenzial, die Welt zu befrieden – aber auch die Sprengkraft, alles zu zerstören, denn Liebe muss richtig verstanden und gelebt werden. Die inneren Sinnbilder von Liebe sind mit unterschiedlichen Farben und Gefühlen gezeichnet. Die Dichter sind – schon immer – in der höchsten Verantwortung gewesen, als Vermittler dem Welt-befriedende-Element zu dienen und beim Metaphern-Verständnis zu unterstützen. Lyriker sein bedeutet auch zwischen der Poesie und der realen Welt zu vermitteln und im besten Fall die Welt mit Poesie zu befrieden.
Wenn dem Dichter ein Einfall übermannt, er in diesem besonderen Moment nicht seiner Berufung folgt, nicht die Zeilen notiert, so versündigt er sich an der Poesie, an der Freiheit und letzten Endes an den Menschen, denn unsere Welt-Essenz benötigt dringend eine Restauration, eine Anreicherung von guten, liebenden poetischen Gedanken. Albert Camus veredelte unsere Welt-Essenz mit dem folgenden Satz; er griff die Liebe auf; wie sie uns alle – alle fühlenden und denkenden Menschen – aus dem Daseins-Dilemma im Weltentheater retten kann – er reicherte mit Hoffnung an.
»Es herrscht das Absurde, und die Liebe errettet davor.«
(Albert Camus, 1913-1960, 1957 Nobelpreis für Literatur)
Was macht die Biene auf dem Meer? Dies ist ein Buchtitel (von Rainer Kunze) – Gedichte für Kinder, Mütter, Väter, Großmütter und Großväter – und es hilft dabei unsere Nachkommen, unsere zukünftigen Dichter und Denker, unseren Kindern dabei, die Welt mit Poesie zu entdecken. Der dunklen Nacht der Menschlichkeit können wir mit Liebe begegnen und durch die Poesie überwinden. Wir stehen am Scheideweg, in welche Richtung wir uns bewegen, das obliegt bei uns selbst.
Fortsetzung folgt …
S.
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