Der Freytag: Remember, remember, the 5th of November

«Remember, remember, the 5th of November.» Wird die Welt bald stillstehen? Oder erleben wir, was die ZEIT auf der Titelseite fragt: «Aufwachen in einer neuen Welt?» Der Reim «Remember, remember, the 5th of November» gehört im angloamerikanischen Raum zum kulturellen Gedächtnis und erinnert an den 5. November 1605 – Guy Fawkes Day. Damals vereitelten die Behörden das sogenannte Gunpowder Plot. Eine Gruppe katholischer Verschwörer um Guy Fawkes plante, das englische Parlament in die Luft zu sprengen und König James I. zu töten. Der Film «V for Vendetta» machte den Ausdruck weltweit bekannt; er gilt heute als Symbol für Widerstand und Protest gegen staatliche Unterdrückung und Korruption. Ein Omen, dass genau an diesem 5. November die US-Wahl stattfindet?

«Le roi est mort, vive le roi!» Oder: «Der König ist tot, es lebe der König!» – Eine Formel aus dem Jahr 1422, als König Karl VI. von Frankreich starb und sein Sohn Karl VII. sofort als neuer König verkündet wurde. Diese Worte stehen für das Prinzip der nahtlosen Thronfolge: Stirbt der König, folgt unmittelbar der nächste. Sie symbolisieren die Kontinuität und Beständigkeit der Monarchie. Doch die USA sind kein Königreich und waren es nie – sie sind eine Kolonie des Königreichs Großbritanniens gewesen, mehr nicht. Vielleicht trifft «Imperium» die Situation aktuell besser, aber lassen wir es bei: Demokratie. Wie viel Macht hat eine Präsidentin oder ein Präsident wirklich?

Bei Entscheidungen spielen viele mit; die Person am Mikrofon besitzt, einer echten Demokratie entsprechend, nur begrenzte Befugnisse. In den USA läuft der Gesetzgebungsprozess durch den Kongress und den Präsidenten. Der Kongress setzt sich aus zwei Kammern zusammen: Der Senat, in dem jeder Bundesstaat zwei Vertreter entsendet – insgesamt 100 Senatoren –, und das Repräsentantenhaus, dessen 435 Abgeordnete die Bevölkerung jedes Staates repräsentieren. Die Abgeordneten arbeiten in Ausschüssen, beraten und ändern Gesetzentwürfe oder lehnen sie ab. Über jeden Entwurf stimmen beide Kammern einzeln ab und müssen schließlich eine gemeinsame Fassung beschließen. Erst danach landet das Gesetz beim Präsidenten, der drei Optionen hat: unterzeichnen, ablehnen oder gar nichts tun. Der Kongress kann ein Veto des Präsidenten mit einer Zweidrittelmehrheit überstimmen. Damit stellt das System der «Checks and Balances» sicher, dass Exekutive, Legislative und Judikative sich gegenseitig kontrollieren und keine Machtposition uneingeschränkt bleibt. In den USA herrscht eine repräsentative Demokratie, oder?

Der Begriff «Demokratie» kommt aus dem Altgriechischen: «dēmokratía» bedeutet wörtlich «Herrschaft des Volkes». Kürzlich sah ich die Reportage «Durch die USA mit Wolfgang Fierek – Ein gespaltenes Land vor der Wahl». Die USA üben seit jeher eine Faszination auf mich aus, und ich erinnerte mich an die Sat.1-Serie «Frei wie der Wind». Zwischen 1995 und 1998 reiste Fierek mit dem Motorrad durch die USA und zeigte die Vielfalt, die Natur und die Menschen, wie sie lebten und tickten. Das war jedoch vor knapp 30 Jahren. Doch wie sieht es gegenwärtig auf der anderen Seite des Atlantiks aus?

Die Amerikaner ticken heute noch immer – aber gespaltener. Fiereks aktuelle Reportage zeigt erschreckend deutlich, wie stark das Land gespalten ist und wie verhärtet die Fronten im «Land of the Free» derzeit sind. Einige der Interviewten wollen gar nicht zur Wahl gehen; sie wirken, als hätten sie sich innerlich von ihrem eigenen Land distanziert – zurückgezogen wie in der Biedermeierzeit in Deutschland. Doch Demokratie will mit Leben gefüllt sein; ein Biedermeierverhalten entbindet nicht von der Verantwortung für das, was folgt. «Verantwortlich ist man nicht nur für das, was man tut, sondern auch für das, was man nicht tut.» (Laotse). Hat Laotse nicht recht?

Wenn ich mich umschaue, frage ich mich: Ist unsere Gesellschaft ähnlich gespalten wie die amerikanische und rücken wir auch in eine zweite Biedermeierzeit zurück? Beim Nachdenken über die Spaltung innerhalb der Gesellschaft wandert mein Gedanke hin zum Römischen Reich und zur Strategie «Divide et impera» (Teile und herrsche). Römische Herrscher nutzten diese Taktik, um eroberte Gebiete und Bevölkerungsgruppen zu kontrollieren. Indem sie Gegner spalteten und gegeneinander ausspielten, verhinderten sie, dass sich eine starke Opposition bildete. Julius Caesar und andere Kaiser setzten die Methode im Reich und bei der Expansion ein, um ihre Macht zu sichern. Kann es sein, dass «Divide et impera» wieder Hochkonjunktur hat?

«Nearly all men can stand adversity, but if you want to test a man’s character, give him power.» (Gib einem Menschen Macht, und du erkennst seinen wahren Charakter.) – Abraham Lincoln, 16. Präsident der USA, ermordet durch John Wilkes Booth am 14. April 1865. Hoffen wir, dass die Spaltung heute keine Extremisten hervorbringt und uns ein ähnliches Schicksal wie Lincolns erspart bleibt – unabhängig davon, ob eine Präsidentin oder ein Präsident regieren wird. Oder möchte das jemand miterleben?

Ich denke, wir müssen lernen, unsere Emotionen besser zu beherrschen. Egal, wie stark wir einen politischen Gegner verachten – niemand sollte ihm den Tod wünschen, und Schadenfreude über das Unglück anderer ist unangebracht. Mitmenschlichkeit sollte uns alle auszeichnen. Frieden unter allen Völkern als Wunsch wirkt fast utopisch – zumindest derzeit. Doch Vernunft unter den Völkern muss möglich sein – hier und jetzt, heute, noch vor dem 5. November, oder?

Als ich mir gestern DIE ZEIT im Zeitungsladen holte und das Titelbild sah, dachte ich sofort an den Film Matrix und die Szene, in der Neo zwischen der roten und der blauen Pille wählen muss. Beide Pillen symbolisieren eine andere Realität. Die Wahl zeigt den Entschluss, sich der Wahrheit zu stellen, auch wenn sie unbequem ist, oder den einfachen, vertrauten Weg in Unwissenheit zu wählen. Wir haben immer die Wahl, auch wenn gerade keine Wahlen stattfinden. Jeder Tag ist ein Wahltag, und die Seite, für die wir uns entscheiden, bestimmt die Zukunft eines jeden Einzelnen.

Sapere aude!

S.

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