Der Horror ist zurück. Aber Moment, ich meine das vielleicht anders, als ihr denkt. Viele werden sich jetzt – dank meiner Überschrift – mit Grausen an den Lateinunterricht und einige Wenige an den Altgriechischunterricht erinnern. Lang, lang ist’s her. Ich will uns alle lieber mal, bevor es peinlich wird, aus der Bredouille helfen: Stimme des Volkes → öffentliche Sache (Gemeinwesen) → Erkenne dich selbst. Das hätte ich auch einfacher haben können, indem ich die Überschrift gleich übersetzt niederschreibe. Aber was ist denn heutzutage noch einfach?
Was können wir noch entspannt und einfach auf uns wirken lassen? Manche können es, die meisten offensichtlich nicht; die Wenigen haben vielleicht den Satz «homologoumenos te physei zen» verinnerlicht. Ach ja, da war’s wieder, das Altgriechische: «Lebe im Einklang mit der Natur» – der zentrale Satz der Stoa. Dieser Grundsatz fordert die Menschen auf, in Harmonie mit der eigenen inneren Natur und der Weltordnung zu leben, wie sie durch Vernunft und Tugend bestimmt ist. Für die Stoiker bedeutete das, sich von äußeren Umständen und Emotionen, die das innere Gleichgewicht stören könnten, nicht beeinflussen zu lassen und stattdessen gemäß den Prinzipien der Tugend und Weisheit zu handeln. Klingt gut, oder?
Ist es auch; aber ich sehe im Moment kaum Stoiker, ganz im Gegenteil. Das Emotionstheater läuft auf Hochtouren, und ihr wisst auch, warum. Erst die USA – ein Beben, und ich erinnere an meine letzte Kolumne: Der Freytag: Remember, remember, the 5th of November – der Seismograph deutete es ebenfalls an, auch wenn es viele Medien nicht wahrhaben wollten – und dann kaum 24 Stunden später die Erschütterung in Berlin; Deutschland zittert oder atmet jetzt hoffnungsvoll auf. Ich mag es nicht bewerten; muss ich auch nicht. Denn ich bin bemüht, im Innersten Ruhe, Harmonie und Güte zu bewahren und mich nicht durch äußere Umstände und Emotionen im inneren Gleichgewicht stören zu lassen. Klingt gut, ist aber alles andere als einfach. Seit zwanzig Jahren übe ich Qigong, meditiere und stelle fest, dass die Zeit gerade sehr fordernd ist. Vielleicht sehen wir die Dinge nur derzeit sehr viel deutlicher, aber es ändert kaum etwas an unserer eigenen Verortung im Gesamtsystem mit dem Namen Universum.
Beim Universum bin ich zwangsläufig bei Einstein: «Es ist schwieriger, eine vorgefasste Meinung zu zertrümmern als ein Atom.» Daher werde ich auch nicht einmal im Ansatz versuchen, zur vergangenen Woche Stellung zu beziehen; Medien bilden unsere Meinung. Einstein hatte und hat leider immer noch recht. Das Emotionstheater, in dem wir uns befinden, erlaubt es nur noch bedingt, sachlich und faktenbasiert über Dinge zu sprechen. Heiner Geißler, ein Politiker, den ich schätze, sagte: «In der Politik sind Emotionen Fakten.» Ich muss ihm leider zustimmen, ohne selbst den Anspruch zu erheben, dass ich immer im Besitz der ultimativen Wahrheit bin.
«Gnothi seauton»: «Erkenne dich selbst». Dieser Ausdruck stammt aus der antiken griechischen Philosophie und war am Apollon-Tempel in Delphi eingraviert. Es ist eine Aufforderung zur Selbsterkenntnis und inneren Reflexion. Vielleicht ist gerade die Gegenwart, die wir alle gemeinsam erleben, die Zeit, die wir nutzen sollten, um uns selbst zu erkennen. Sind wir gütig? Können wir unsere Mitmenschen akzeptieren – auch, oder gerade dann, wenn sie eine andere Meinung haben? Wie tolerant können wir sein? Ich bin mir nicht sicher, ob jeder verstanden hat, was Toleranz tatsächlich bedeutet. Im Chinesischen steht das Schriftzeichen «Ren» für Nachsicht, Toleranz, und in diesem Zeichen kann man deutlich einen Tropfen Blut sehen, an der Klinge eines Messers, das ins Herz hineinschneidet. Toleranz zu üben und zu leben, ist eine der schwierigsten Tugenden, an der wir uns tagtäglich üben und beweisen können. Das Titelfoto von mir ist sehr, sehr rot. Vielleicht ist das eine plastische Aufforderung an uns alle, Güte und Toleranz zu üben – denn ich glaube, wir haben darin als Menschheit noch sehr viel Nachholbedarf. «Gnothi seauton» – jetzt ist der Moment, «Ren» zu üben!
Sapere aude!
S.