Buch des Tages: Meine deutsche Literatur seit 1945 von Marcel Reich-Ranicki

Ich sitze am Schreibtisch und denke nach. Marcel Reich-Ranicki prägte meine Abiturzeit, meine Jugend, und wenn ich heute auf die Vergangenheit blicke, muss ich wohl feststellen: Er prägte auch mein Leben. Mit seiner Sendung, Das Literarische Quartett, die mir immer noch oft in den Sinn kommt, legte er den Grundstein für meine damals noch unter der Oberfläche schlummernde literarische Entwicklung. Es gleicht einem Bambus, der sehr lange benötigt, um sein Wurzelwerk zu bilden. Doch dann kommt der Moment, in dem er plötzlich durchbricht, wächst und wächst, getragen von einem Fundament, das in seiner Ausprägung gigantisch ist. Und so folgt er seiner Bestimmung.

Das wäre eine Möglichkeit der Betrachtung. Eine andere Sicht ist der Fluchtgedanke – Eskapismus vor dem, was wir Wirklichkeit nennen. Ich frage mich gerade, ob ich mich in einer Art zweiter Biedermeierzeit befinde, nicht ins Häusliche, sondern ins Literarische flüchte. Seien wir doch ehrlich: Wir können uns die Gegenwart schönreden, den Kopf in den Sand stecken und von einer heilen Welt – unter der Erde – träumen. Aber wenn es so weitergeht, werden wir über der Oberfläche davon eingeholt. Von all den Verrückten, die glauben, dass es keine Alternativen zur Gegenwart gibt.

Die Gegenwart ist grausig. Die Literatur hingegen nicht. Sie formt geistige Welten, sie schafft, anstatt zu zerstören. Die Gegenwart ist destruktiv, zerstörerisch – und wenn nicht bald die Vernunft die Oberhand gewinnt, wird es selbst in der literarischen Biedermeierwelt düster aussehen. Diese wird ja bereits verformt: Alte Werke werden umgeschrieben, gecancelt. Kästner musste – oder wollte – in Berlin das damalige Canceln seiner Werke live miterleben. Welch großer Mut. Er blieb in Deutschland, trotz des Wahnsinns, bis zum Ende. Ich weiß nicht, ob ich das könnte.

Doch diese Perspektive gefällt mir weniger.

Ich halte mich lieber an den Bambus.

Nur laut gedacht. Wenn ich einen Appell hätte, dann diesen: Lest wieder mehr. Denkt wieder mehr. Geht neue gedankliche Wege. Betretet die unzähligen literarischen Welten, die es immer noch gibt.

Sapere aude!

S.

Marcel Reich-Ranicki