Der Freytag: Maischnee und Mozart mit Melancholie

Es war Mai. Er war zu verregnet und viel zu kalt. In der Nacht fiel Schnee und am nächsten Morgen bedeckte er hauchdünn alle Autos unter seinem frostigen Gewand. Als ich aus dem Fenster sah, dachte ich an Christo und an den verhüllten Reichstag. Wie fremd mir damals Berlin erschien und jetzt war mir Bonn ebenso fremd. Einsamkeit zog unter der Wohnungstür und durch jede Fensterritze hindurch in die Wohnung und sie versuchte mich einzufangen. Mit Melancholie blickte ich auf zahlreiche Umzugskartons, als ich vom Fenster weg in die Wohnung trat, und ich sah diese Ansammlung von Überbleibseln aus einem Lebensabschnitt hinter Kartons verborgen. Es war sehr still. Die Welt zeigte sich mir verlassen und kühl – fast leblos – und es fröstelte mich.

Es gab jetzt so viele Dinge, die ich zu organisieren und zu erledigen hatte und niemand stand mir zur Seite. Die Tage waren lang und die Monotonie beim Abarbeiten all der kleinen und großen Lasten raubte viel Kraft. Jeden Abend fiel ich todmüde ins Bett, hatte kaum noch Kraft, um zu träumen. Eine Sache ließ ich mir dennoch nicht nehmen, auch in dieser harten Zeit nicht. Es war der gewohnte Gang in die Oper. Früher überall auf der Welt zu Hause, so war jetzt meine Welt kleiner geworden und es reichte noch gerade so für ein Opernabo in der Stadt.

Mein Smoking war noch in der Reinigung. Sie lag gleich bei mir um die Ecke. Als ich ihn ein paar Tage später abholte – er wirkte auf mich wie aus dem Rahmen und aus der Zeit gefallen, ein fremdes Überbleibsel. So trug ich ihn wie vor vielen Jahren meinen Bräutigamsanzug nach Hause und spürte förmlich die Blicke der Passanten auf meiner mit Melancholie durchtränkten Haut. Es war kein Stadtteil für Wohlhabende und für mich war die Gegend und das Umfeld noch gewöhnungsbedürftig. In der Wohnung angekommen legte ich den Anzug auf die Umzugskartons. Der Anblick war durchzogen von einer Unwirklichkeit. Auf der einen Blickfeldebene der Smoking, auf der anderen die Umzugskartons und eine fast leere Wohnung.

Ein Campingtisch und ein Campingstuhl, meine Übergangslösung als Esstisch. Früher hatte ich eine lange Tafel, an der viele Freunde Platz fanden; manchmal waren wir zu zwölft am Tisch. Ich erinnerte mich an die Lebendigkeit in der anderen Wohnung – damals. Jetzt ist es leise und still geworden. Nur der Smoking starrt mich durch seine – in durchsichtiger Folie gehüllten – Schutzhülle an. – Getrennt vom Staub der Zeit, dem Schmutz der Welt, so liegt er vor mir surreal da. Ich nehme Platz im durchgesessenen Campingstuhl und spüre durch den Sitz die harten Stahlfedern am Körper. Sie reißen mich aus meiner Gedankenwelt. Ich denke bei mir: Das Leben ist wie Yin und Yang.

Es klingelt an der Tür, ich öffne und nehme meine Pizzabestellung in empfang. Es erinnert mich an die Studentenzeit; nur bin ich jetzt älter, in einer anderen Stadt und weiß manche Dinge mehr zu schätzen als früher. Die Pizza schmeckt wie ein Sternemenü; es ist meine erste Mahlzeit des Tages und es ist Freitag Abend 18 Uhr. Kirchenglocken läuten in der Ferne und ich denke an morgen und überlege in welchem Karton meine schwarzen Lackschuhe sein könnten. Sie müssen noch entstaubt und geputzt werden. Denn der letzte Opernbesuch liegt bereits Jahre zurück. – Es war ein Besuch der Bayreuther Festspiele; Tristan und Isolde wurde aufgeführt. Nur diese Wagnerschwere könnte ich jetzt in der Oper nicht verkraften. Sie könnte meine Gemütsverfassung sprengen.

Fast 24 Stunden später stehe ich mit den glänzenden Lackschuhen und meinem Smoking an der Garderobe in der Oper und gebe Mantel, Hut und Schirm ab. – Es graupelte leicht auf dem Weg zur Oper und der Himmel war wolkenverhangen. Beim Betreten des Opernhauses schlug mir ein wärmender Windhauch entgegen, und als ich mit meinen glänzenden Schuhen den roten Teppich im großen Saal betrat, war ich in einer anderen Welt. Die Schwere der Zeit war völlig aus meinem Blick- und Gedankenfeld verschwunden. Ich sah viele gut gekleidete und fröhliche Menschen mit erwartungsvollen Blicken. Auch ich freute mich sehr auf Mozarts Zauberflöte. Völlig entspannt und beseelt nahm ich Platz. Die Leichtigkeit und Lebensfreude von Mozart übertrugen sich auf jede Zelle in meinem Körper und ich fühlte mich frei und entspannt.

Diesen Opernbesuch vor circa zehn Jahren werde ich immer in Erinnerung behalten. Mein Leben hatte damals einen sehr hohen Yin-Anteil und die Oper von Mozart war mein kleiner Yang-Ausgleich. Jetzt in der Gegenwart herrscht viel mehr Balance zwischen Yin und Yang. Ich lebe in einer anderen Stadt und bin immer noch ein begeisterter Operngänger und besuche sehr häufig die Bayreuther Festspiele. Ich kann jetzt auch Wagner in seiner vollen Bandbreite auf mich wirken lassen und im letzten Jahr sah ich mir den kompletten Ring an und ich habe ihn in vollen Zügen genießen können. Den alten Smoking habe ich durch einen Neuen ersetzt und auch meine Smokingschuhe sind jetzt neu. Einen Tag vorher musste ich mir auch keine Pizza bestellen, da ich den besten und fürsorglichsten Menschen jetzt an meiner Seite stehend zu schätzen weiß. In diesem Sinne und aus frohem Herzen: Alles Gute zum 267. Geburtstag lieber Wolfgang Amadeus Mozart (27. Jänner 1756 in Salzburg geboren). Heute an deinem Jubeltag habe ich mich an damals zurückerinnert und diese Kolumne geschrieben.

S.

PS: Für alle Mozartianer: Vom 26. Jänner – 5. Februar 2023 finden in Salzburg die Mozartwochen statt – das renommierteste Mozart-Festival der Welt. Auf nach Salzburg!