Ein kalter, klarer Januartag. Es ist gegen Mittag, als ich in Leipzig den Bahnhof erreiche. Der erste Eindruck: Ich bin überwältigt von der Architektur im inneren des Bahnhofs. Es ist, als wäre ich in einer anderen Zeit und in einem anderen Land angekommen. Die lange Zugfahrt zollt jetzt ihren Tribut. Hunger und Durst machen sich bemerkbar. Lange muss ich nicht Ausschau halten, der Bahnhof ist überfüllt mit Möglichkeiten zur Einkehr. Meine Wahl fällt auf das Nächstgelegene; der Laden einer großen amerikanischen Kaffeekette. Ein leises wow rutsch mir unbemerkt beim betreten des Kaffees über die Lippen. Ein überwältigender Anblick. Jugendstil, wohin das Auge blickt. Der Zauber dieser Architektur macht sich breit.
Ich verlasse den Bahnhof, fahre zum Hotel; das ich nach dem einchecken, sofort wieder verlasse, um mich im Fluss der Stadt treiben zu lassen. Es Wagnert bereits – gedanklich. Zum ersten Mal in der Geburtsstadt von Richard Wagner. Am Samstagabend bin ich in der Oper bei der Inszenierung vom Rheingold mit dabei. »Weia! Waga! Woge, du Welle,«1Das Rheingold, Richard Wagner, Woglinde – jahrelang bin ich in Bonn gewesen, direkt am Rhein, und jetzt schaue ich mir knapp 500 km vom Rhein entfernt in Leipzig die Eröffnungsoper vom Ring des Nibelungen zum ersten Mal an. Wird mich auch diese Oper verzaubern?
Es ist Freitag und bis zur Wagneroper am Samstagabend ist noch Zeit. Ich denke über die Zeit an sich nach und lande im Jahr 1989. In Leipzig wurde Geschichte geschrieben. War dies damals auch ein Zauber? – Ein Zauber des Notwendigen? Seit 1989 hat sich viel verändert. Die Architektur in der Stadt – als ein visuelles Zeichen der Veränderung von Gesellschaft und System – hat sich stark gewandelt. Viele Fassaden erscheinen im neuen Glanz und der sozialistische Baustil ist fast ganz verschwunden – ein sichtbarer und markanter Neuanfang spiegelt sich in den Steinen wieder und ich denke an: »Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.«2Lyrik: Stufen – eines der bekanntesten philosophischen Gedichte von Hermann Hesse
Auf den Spuren von Goethe und in den Fußstapfen von Richard Wagner. Ich stehe vor der Brozegruppe beim Eingang vom Auerbach Keller. Es ist die bekannteste und zweitälteste Gaststätte der Stadt. Faust und Mephisto, der die Studenten verzaubert. Goethe, einer der größten Geister in der Geschichte von Deutschland, wirkt und hallt hier immer noch nach. Im Anschluss besuche ich die Alte Börse. Und am Marktplatz versetzt mich die Stimmung zurück in die Zeit von Richard Wagner und seiner Studentenzeit (circa 1831). Viel studiert hatte er damals an der Universität nicht; vielmehr war er dem Spiel und den schönen Dingen des Lebens zugetan. Er hatte auch in Leipzig viel Glück. – Wirkte ein Schutzzauber über ihn? Als er beim Corps Saxonia Leipzig aktiv war, hagelte es Contragen und Duelle. – Er konnte halt nie seinen Mund zum richtigen Zeitpunkt halten. Doch irgendetwas schien ihn vor den Duellen zu bewahren. Alle Duellanten sind entweder vorher selbst bei einem Duell getötet worden, im Zuchthaus gelandet oder mussten die Stadt fluchtartig verlassen, da sie Ärger mit den Gesetzeshütern hatten. – Ein Zauber von Leipzig.
Nach dem Spazieren in der Wagnerwelt und Goethes Gedankenwelt kreuzte Hunger und Durst meinen Weg. Ich hielt Ausschau nach einer Einkehrmöglichkeit und strandete in einem gemütlichen italienischen Restaurant. Das Essen war köstlich. – Richard Wagner war im Übrigen auch ein großer Italienfan; er liebte Venedig und die italienische Oper und ganz besonders Rossini. Sehr spät in der Nacht, ich war noch mit einer der letzten Gäste, flackerte Familienstimmung auf. Die Besitzer saßen bei mir mit am Tisch und ich erzählte von Richard Wagner. Wir tranken und unterhielten uns angeregt über Gott und die Welt. Und ich fragte nach, wie sie Leipzig sehen und sahen. – Ich wollte wissen, wie die Stadt tickt. Die Inhaberin, eine ältere Dame, eine echte Leipzigerin, erzählte mir aus ihrem Leben, aus der DDR-Zeit und wie sie die Wende 1989 erlebte.
Mir war plötzlich völlig klar, was für ein Zauber über Leipzig ’89 lag und heute vielleicht auch noch liegt. Es war der Zauber einer universellen Wahrheit und ich musste an Schiller denken. »Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei, / Und würd er in Ketten geboren, / Laßt euch nicht irren des Pöbels Geschrei, / Nicht den Mißbrauch rasender Toren. / Vor dem Sklaven, wenn er die Kette bricht, / Vor dem freien Menschen erzittert nicht.«3Gedicht: Die Worte des Glaubens von Friedrich v. Schiller Der Mensch ist frei geschaffen, dies war und ist die universelle Wahrheit des Lebens. Dieser zauberhafte Gedanke von Freiheit schwebte an diesem Abend spürbar in unseren Gedanken.
Es sind nicht nur Wagner und Goethe gewesen, die in dieser Stadt wirkten und das Feld der Freiheit stärkten. Ich sage nur: SDG und jeder weiß, von wem ich noch spreche – J. S. Bach. Und im Geiste dieses Zaubers: Alles Gute zum Geburtstag Felix Mendelssohn Bartholdy43. Februar 1809 in Hamburg; † 4. November 1847 in Leipzig. Er feiert heute im Zauber dieser Stadt seinen 214. Geburtstag und auch er stärkte das Feld der Freiheit mit Musik. – Und ja, auch die Musik vom Rheingold hat mich im Sinne Wagners in der Leipziger Oper verzaubert. »So grüß euch denn, meiner Freiheit erster Gruß!«5Das Rheingold, Richard Wagner, Alberich
S.
- 1Das Rheingold, Richard Wagner, Woglinde
- 2Lyrik: Stufen – eines der bekanntesten philosophischen Gedichte von Hermann Hesse
- 3Gedicht: Die Worte des Glaubens von Friedrich v. Schiller
- 43. Februar 1809 in Hamburg; † 4. November 1847 in Leipzig
- 5Das Rheingold, Richard Wagner, Alberich