Der Freytag: Über Buchstabensuppe und über Bücher

Mit Büchern ist es wie mit Menschen; den meisten begegnet man nie; viele streifen unsere Wege, aber wir beachten sie nicht oder sie fallen kaum auf; nur wenige wecken unsere Aufmerksamkeit und wir verbringen Zeit mit ihnen; mitunter sind es nur Minuten, manchmal sind es Stunden beziehungsweise Tage und in wenigen und seltenen Fällen sind es Wochen, Monate oder Jahre – und genau so verhält es sich in unseren Beziehungen zu den Büchern.

Nach vielen Lesejahren habe ich folgendes festgestellt: Der Anteil von Werken, die lesbar, bereichernd und fesselnd sind, ist Pareto-Verteilt. 20 % der Schriften, die mir begegnet sind, war kostbarer Lesestoff; die überwiegende Mehrheit von 80 % glich einer Buchstabensuppe. Ob früher oder heute, es ist nach wie vor so: Buchstabensuppe nur dann, wenn es unbedingt sein muss. Als Kind fischte ich immer in der Suppe herum, suchte Buchstaben und formte sie am Tellerrand zu sinnigen Wörtern und Sätzen. In meiner frühkindlichen Sprachsuppe blieben häufig viele Schriftzeichen wie Waisenkinder zurück und den Hunger verlor ich nach diesen ersten sprachlichen Gehversuchen immer schnell auf die Suppe und freute mich dann umso mehr auf die leckeren Nachspeisen; oft gab es die heiß geliebte Zitronencreme – ich liebe sie noch heute. Beim Essen gilt die Pareto-Verteilung ebenso. Suppe => 80 %, Zitronencreme => 20 %

Wörter, Sätze, Seiten – Bücher: Sie sind im besten Fall geordnete Gedanken, fernab vom Chaos der Welt, dem Tohuwabohu unter den Menschen. Sie beflügeln unseren Denkvermögen, regen die Phantasie an und bereichern uns; dort, wo geistige Ordnung in den Schriften herrscht, ist Klarheit und Weisheit zu finden. Aus Durcheinander im Geist entsteht nur selten Ordnung in der Literatur. Alle Autoren fischen beim Schreiben in der Urbuchstabensuppe; sie ringen um Wörter und formen Texte; sie ordnen die Gedanken und mit jeder Menge Glück eilt eine Muse herbei, blickt dem Literat über die Schultern und die Sätze sprudeln – Dank der Muse – regelrecht nur so aus dem Handgelenk heraus. Beim Korrekturlesen ist der Schriftsteller dann selbst darüber erstaunt, was er schrieb; leider scheinen sich die Musen an die Pareto-Verteilung gebunden zu haben und für 80 % der Schreiberei gilt: Könnte auch in den Papierkorb.

Als Leser ist mein Leben etwas leichter; zum Wälzen benötige ich keine Muse, mir reicht Zeit zum Schmökern völlig aus, um dieser Leidenschaft nach zu gehen. Ich lese gerne; aber jedes Studieren ist entweder effizient investierte oder verschwendete Lebenszeit. Nachdem mir klar ist, wie kostbar unsere Zeit sein kann, entscheide ich nach circa 30 Seiten, ob ich weiterlese oder ob ich das Schriftwerk zur Seite lege und auf den 80 % Stoß zurücklege. Ein Buch, das es nach zwei Seiten in den 20 % Stapel schaffte und das ich im Moment in den letzten Zügen auslese, ist ein Werk von Elke Heidenreich mit dem Titel: »Ihr glücklichen Augen/ Kurze Geschichten zu weiten Reisen«. Ich kann dieses Werk wärmstens empfehlen: bereichernd, lesbar, intelligent, kurzweilig. Ich glaube, dass der heutige Buchtipp von mir für euch umgekehrt Pareto-Verteilt ist: 80 % werden dieses Buch ebenso lieben wie ich und 20 % werden wahrscheinlich nicht meine Meinung teilen. Ich ende heute mit Cicero: »Ein Raum ohne Bücher ist ein Körper ohne Seele.« Und mit Heinrich Heine: »Von allen Welten, die der Mensch erschaffen hat, ist die der Bücher die Gewaltigste.« Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen; lest mehr gute Bücher und lasst die Schlechten bei Seite – ab und an werde ich in der Kolumne über Bücher sprechen, die uns bereichern und uns dabei unterstützen geistreicher zu werden.

Fortsetzung folgt …

S.

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