Der Freytag: Die Revolution und das Ende der zweiten Biedermeier-Zeit

It’s time

»Wenn selbst die Flucht ins Idyll und ins Private nicht mehr gelingt, da das Idyll zerstört und das Private beraubt, bleibt nur noch ein Ausweg, der einzig mögliche Schritt als Ultima Ratio übrig: Revolution!« Der Triggersatz, der mich aus meiner literarisch zeitlosen Gedankenwelt urplötzlich herausreißt. Ich sitze wieder einmal im Café – nicht im Kaffeehaus – die Unterschiede mögen marginal sein, aber die Wirkung ist groß; hätte ich im Kaffeehaus meinen Platz eingenommen, so wäre mir Michel nicht über den Weg gelaufen und ich hätte mir keine Gedankenbilder über Revolution, über die Unfähigkeit der politischen Kaste – wie Michel sie jetzt nennt – anschauen müssen. – Müssen! Was müssen wir wirklich? Wenn der Leidensdruck zunimmt und die Komfortzone abnimmt, dann müssen wir; aber wollen wir auch? Viele können nicht, wollen nicht – alles eine Frage vom persönlichen Leidensdruck; ist dieser unerträglich hoch, dann müssen wir, egal ob wir wollen; und wer muss, der kann auch.

Die Ohren in diesem sehr jungfreudingen Jahr 2024 – das seine Unschuld schneller verlor als der Papst Amen sagen kann – quellen über durch die unzähligen lautstarken Schlachtrufe der Bauern und durch die Stimmen aus der Bevölkerung, die sich mehr und mehr den Bauernprotesten anschließen. Land auf, Land ab schallt es durch Wald, Flur und Stadt: »hau ab, hau ab, hau ab…«, wenn Politiker, besonders von den Grünen anwesend sind und »wir ham die Schnauze voll, wir ham die Schnauze voll, wir ham, wir ham, die Schnauze voll…«; das sind die neuen Nationalhymnen im Land. Der Chor der Sänger wächst schneller als R. Habeck seinen eigenen Satz aus seinem Buch »Patriotismus – Ein linkes Plädoyer«: »Vaterlandsliebe fand ich stets zum Kotzen. Ich wusste mit Deutschland noch nie etwas anzufangen und weiß es bis heute nicht.« vorlesen kann. – Gut, es hängt auch immer vom Kontext ab, wann und wo etwas gesagt oder geschrieben worden ist. In welcher Zeit leben wir? Natürlich gilt auch für R. Habeck Art. 5, Absatz 1 des GG. »Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.« Zensur? Wie frei, wie unzensiert ist unsere Gegenwart? Spätestens seit der Corona-Zeit sollte jedem klar sein, dass »Framing« nichts mit Malerei oder Innenarchitektur zu tun hat.

Zensur gab es schob immer; manchmal mehr, manchmal weniger. Ein kurzer Rückblick in die Zeit der Karlsbader Beschlüsse (1819), in die Biedermeier-Epoche (1815–1848); in die Zeit des Rückzugs in die heile Welt – wie heile die auch immer gewesen sein mag: sehr fragil wahrscheinlich -, in die Zeit von Annette von Droste-Hülshoff (siehe Erzählung: Die Judenbuche), in die Zeit von Eduard Mörike und Franz Grillparzer. »Die Proteste der Bevölkerung wurden durch die Karlsbader Beschlüsse (1819) mit Zensur und dem Verbot der Studentenverbindungen bestraft. Das verstärkte, das Misstrauen in die Obrigkeit. Insgesamt war die Epoche des Biedermeier eine Zeit, in der Kritik am System und politische Mitsprache verboten waren.« (Siehe: https://abi.unicum.de/epochen/biedermeier-epoche). Diese (erste?) Biedermeiner-Zeit endete mit dem Beginn der Märzrevolution 1848; vielleicht war der Bogen überspannt, der Leidensdruck, der persönliche Leidensdruck, zu hoch: Sie mussten, egal ob sie wollten; wer musste, der konnte auch.

1847 – ein Jahr vor dem Ende der Biedermeier-Epoche – gilt als Krisenjahr in Mitteleuropa; Hungersnöte sind die Folge von schweren Missernten im Jahr zuvor in fast allen deutschen Regionen gewesen; die Lebensmittelpreise stiegen rasant und verursachten Hunger und soziale Not; der persönliche Leidensdruck stieg, wurde unerträglich hoch: Sie mussten, egal ob sie wollten; wer musste, der konnte auch. Siehe »Kartoffelrevolution« im April 1847 in Berlin – die Vorboten der Märzrevolution. »Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich.« (Nicht von Mark Twain). Der letzte Satz, der mich aus meiner Minuten-Traumwelt, aus einer Fülle von Gedanken – getriggert durch Michels Aussage – entschwinden lässt. Ich sitze immer noch im Café; auf dem Tisch liegt ein Zettel von Michel; er scheibt, dass er weiter musste; ich bekam das durch meinen kleinen Tagtraum nicht mit. Der Kaffee steht kalt vor mir; ich bestelle mir einen neuen; ich denke an Paris, an die Cafés: Café de Foy, Café Hottot und an das Café Corazza; sie sind zwischen 1789 und 1799 – zur Zeit der Französischen Revolution – die politischen Versammlungsorte gewesen. Ich sitze im Café Müller, das wenig revolutionär klingt; das Radio im Café spielt: »Mit einem Taxi nach Paris / Nur für einen Tag / Mit einem Taxi nach Paris / Weil ich Paris nun mal so mag / Mit einem Taxi nach Paris / Und vielleicht ein kleines Rendezvous…«. Vielleicht schreibe ich bald eine Kolumne mit dem Titel: Taxi nach Paris.

Fortsetzung folgt …

S.

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