Der Freytag: Alles nur Theater im Theater – »die gute alte Zeit« und ein postmoderner Blick auf den Zufall

»Theater, Theater / Der Vorhang geht auf, dann wird die Bühne zur Welt / Theater, Theater / Das ist wie ein Rausch, und nur der Augenblick zählt…« Katja Ebstein sang diese Zeilen aus dem Lied »Theater« am 19. Mai 1980 in der ZDF-Hitparade zum ersten Mal, und wenn ich mich nicht täusche, sah ich diese Sendung damals gemeinsam mit meiner Oma. Die ZDF-Hitparade erinnert mich an »die gute alte Zeit«, die es tatsächlich gibt. Jetzt, da ich älter bin, weiß ich, dass es nicht nur eine Redensart ist, sondern ein Faktum: »die gute alte Zeit« gibt’s tatsächlich immer noch; aber der Wahrheitsgehalt hängt ganz sicher vom Zeitraum ab, auf den zurückgeblickt wird. Die Zeit zwischen 1933 bis 1945 zählt ganz sicher nicht zur guten alten Zeit; sie war und ist die Unzeit in Deutschland. – Es hämmern soeben 1000 Wörter und 1000000 Gedanken in meinem Kopf herum und ich muss mich sehr disziplinieren, dass ich nicht gleich ungebremst drauf los schreibe. Die Frage: Wie konnte das damals alles nur in Deutschland geschehen? Sie geistert in mir herum, seit ich klar denken kann. Jemand aus dem engeren Kreis der Macht-Clique vom Gröfaz gab mir – durch die damals im Rahmen der Nürnberger Prozesse stattfindenden Verhöre – die Antwort auf diese Frage: Steuerung der Massen mittels Angst.

Angst! Was würden Menschen alles machen, wenn sie »die Weltformel« hätten? »Die Weltformel« ist freilich nur ein Platzhalter – ein Stellvertreter – für eine Erkenntnis, die die Kraft hat, alles zu zerstören; ein Wissen, das bei Missbrauch katastrophale Folgen verursacht. Letzte Woche bin ich im Theater gewesen und habe »Die Physiker« von Friedrich Dürrenmatt gesehen. Bereits 1961 veröffentlicht, zählt das Stück ganz sicher mit zu den Werken, das man gesehen haben muss. »Die Physiker« kenne ich bereits seit 1995; ich las sie damals voller Begeisterung gleich im Anschluss an »Der Besuch der alten Dame«. Dürrenmatt hat mich seit damals – »die guten alten Zeit« – nicht mehr losgelassen. Die Aufführung letzte Woche weckte alte Erinnerungen. – Es gibt seit jeher Menschen, die nach Macht streben; aber allen fehlte – einhergehend mit dieser Macht – die Fähigkeit weise, verantwortungsbewusst und gut – im Sinne für die Menschen – umzugehen. Niemand hat bis dato in der Menschheitsgeschichte die Qualifikation besessen, mit Macht verantwortungsvoll und weise umzugehen – alle großen Machthaber scheitern öffentlich oder im Verborgenen. Auch Mathilde von Zahnd – die Klinikleiterin im Stück – versagt; sie ist von Macht besessen und nebenbei bemerkt die einzig wahre Verrückte im Stück. Das Versagen ist Bestandteil vom menschlichen Dasein; immer dann, wenn es um die großen Fragestellungen geht, hält gleichzeitig das Scheitern mit Einzug. – Muss der Mensch, die Menschheit scheitern, da sie eben menschlich und nicht göttlich ist?

Möbius! Der geniale Geist im Stück; einer der Verrückten, der sein Verrücktsein nur vortäuscht, hat auch Angst; Angst davor, dass seine Entdeckung – »die Weltformel« – missbraucht wird. Er will und kann sich für keinen der großen Machtblöcke: Ost oder West, Kommunismus oder westliche Gesellschaft entscheiden und vernichtete seine Arbeit, damit sie nicht in die falschen Hände fällt. Er stellt sich über den Reichtum – er entsagt bei klarem Bewusstsein, er entsagt dem Ruhm – dem Nobelpreis. Sein Geist siegt augenscheinlich gegenüber der niederen menschlichen Gier; er entsagt auch der Macht: ein wahrer Held. Im Stück geht es auch um Verantwortung der Wissenschaft gegenüber der Menschheit und der Gefahr, dass eine Entdeckung die Welt zerstören könnte. Besonders spannend ist für mich immer wieder bei der Begegnung mit Dürrenmatt die Sprach- und Stilebene. Er verwendet im Stück viele Paradoxa: Aussagen, die widersprüchlich sind. Und wie wir es von Dürrenmatt gewohnt sind, findet auch in diesem Stück der Zufall eine zentrale Verwendung im Kontext des Helden Möbius, der durch unvorhersehbare Zustände scheitert. – Menschen scheitern, wenn sich das Karussell der Macht dreht.

Obwohl ich das Theater liebe, die Oper noch viel mehr, so wird das nächste Stück: »Der Besuch der alten Dame« zu Hause vom Sofa aus betrachtet. Es gibt eine gute Version mit Elisabeth Flickenschildt (Darsteller), Rolf Wanka (Darsteller), Ludwig Cremer (Regisseur) auf DVD.

»Und so sehen wir betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen.« (Marcel Reich-Ranicki. Eine Abwandlung vom Brecht-Zitat: »Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen.« Aus »Der gute Mensch von Sezuan«).

 

Blackie: Nach dem Theater ist vor dem Theater!

Fortsetzung folgt …

S.

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