Der Freytag: Gedichte und die gereimte Gegenwart

»Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich.« (Irrtümlich Mark Twain zugeschrieben.) Im Jahr 2010 schrieb ich mein erstes Gedicht; in den darauf folgenden vierzehn Jahren habe ich bis heute mehr als 500 Lyriken verfasst: Lange, kurze – einige habe ich veröffentlicht, viele nicht. Mit dem Schreiben geht auch das Lesen einher; beide sind wie durch ein unsichtbares Band ineinander verwoben. Anfangs verstand ich diese Aussage von Schriftstellern nur oberflächlich; besser gesagt, ich widersprach nicht, glaubte aber auch ohne Übung und Lesen erfolgreich zu sein – ich schaff’ das! – Es fehlte mir die notwendige Demut vor der deutschen Sprache. Mit der Zeit erfuhr ich sie; erkannte die Macht vom Deutschen und lernte die Ohnmacht kennen, wenn ich überfordert war. Überforderung und Unterforderung liegen sehr nah beieinander; der individuelle Anwendungskorridor bei Deutsch ist sehr schmal; wenngleich sich im Laufe der Zeit auch die Ebene erhöht.

Im Moment lese ich u. a. das Werk: »›Träume deine Träume in Ruh‹ / Gedichte der Stille«. Lyrik zu lesen ist noch nie eine Massenerscheinung gewesen; nach wie vor wird in vielen Romanen und Erzählungen geschmökert, mit Dichtung gibt sich kaum jemand ab, was sehr schade ist. – Vielen Menschen entgeht ein riesiger Schatz an Rhythmus und Reim. In diesem kleinen, oben erwähnten Gedichtband ist auf Seite 42 die Lyrik: Mondnacht von Joseph von Eichendorff abgedruckt – mit eines meiner Lieblingsgedichte. Die zweite Strophe dieser (Ver-)Dichtung liebe ich besonders; ich mag sie euch nicht vorenthalten:

»Die Luft ging durch die Felder,
die Ähren wogten sacht,
es rauschten leis die Wälder,
so sternklar war die Nacht.«

Bei mir entsteht beim Lesen dieser Strophe ad hoc ein Bild; Erinnerungen an eine laue Sommernacht; wenn das Mondlicht die Erde in einer zarten Dämmerstille zeichnet. Vielleicht in Begleitung der Liebsten; gemeinsam den Sternenhimmel beobachten; sich selbst groß im Kosmos fühlen, da die Liebste das eigene Wesen in ein liebendes Verstandenwerdens hinüberträgt. Eichendorff reimt sich; die Geschichte wiederholt sich zwar nicht, aber ihre Klänge gleichen sich. So sehr ich die Menschen und die Lyrik liebe und schätze, so sehr könnte ich im Moment auch an der Menschheit verzweifeln. Der Reim der Zeit klingt gegenwärtig wie eine Melodie, die mir ganz und gar nicht gefällt; ich höre orchestrale Trommellaute vom Krieg, von Größenwahn und vom Irrsinn, gepaart mit Unnachgiebigkeit. Lauter und lauter klingt’s in den Ohren, und es scheint sich niemand von den Intellektuellen daran zu stören. Wir schrieben einst die schönsten Gedichte; das Land der Dichter und Denker hat viele melodische Verszeilen hervorgebracht. Hier ein kleiner Auszug aus der Dichtergeschichte des Vers- und Reim-Landes; Lyrik, die jeder gelesen haben sollte:

– Walther von der Vogelweide: Unter den Linden
– Johann Wolfgang von Goethe: Heideröslein
– Johann Wolfgang von Goethe: An den Mond
– Friedrich von Schiller: Die Kraniche des Ibykus
– Friedrich von Schiller: Die Worte des Glaubens
– Joseph von Eichendorff: Mondnacht
– Heinrich Heine: Nachtgedanken
– Richard Wagner: Mein Freund! In holder Jugendzeit
– Theodor Storm: Abseits
– Theodor Fontane: Ja, das möcht’ ich noch erleben
– Gottfried Keller: Winternacht
– Wilhelm Busch: Es sitzt ein Vogel auf dem Leim
– Stefan George: Wer je die Flammen umschritt
– Else Lasker-Schüler: Frühling
– Christian Morgenstern: Das Huhn
– Hugo von Hofmannsthal: Lebenslied
– Rainer Maria Rilke: Herbsttag
– Rainer Maria Rilke: Der Panther
– Herrmann Hesse: Im Nebel
– Joachim Ringelnatz: Bumerang
– Kurz Tucholksy: Letzte Fahrt
– Franz Werfel: Der Dirigent
– Bertolt Brecht: Fragen
– Erich Kästner: Kennst Du das Land
– Peter Huchel: Der Garten des Theophrast
– Erich Fried: Logos
– Günter Grass: König Lear
– Hans Magnus Enzensberger: Letztwillige Verfügung
– Peter Rühmkorf: Hochseil
– Wolf Biermann: Ermutigung

Alles vergessen! Zu viele Zeilen wurden geschrieben; zu wenige gelesen; und noch viel weniger verstanden. Wir sind wieder an einem Scheideweg angelangt; es trennt sich liebevolles intellektuelles Miteinander von größenwahnsinniger Barbarei. Viele glauben wieder die Welt mit ihrer einzig richtigen Weltsicht zwangsbeglücken zu müssen. Wir sind die Guten und die anderen sind die Bösen. – Die Zeiten von Schiller, Goethe, Kant … haben scheinbar keine Spuren hinterlassen. Die Geschichte reimt sich; sie klingt erneut fürchterlich; wer von Frieden spricht, wird stigmatisiert und ausgegrenzt – die Endstufe ist zwar noch nicht ganz erreicht, aber die Zeichen skizzieren ein düsteres Bild. Lasst uns wieder mehr Gedichte lesen; lasst uns versuchen, die alten Zeilen zu verstehen; lasst uns darum bemühen, uns nicht auf das Trennende zu konzentrieren, sondern lasst uns auf das Verbindende blicken; das Menschliche im Menschen zu suchen, das nach wie vor wie ein Schatz in jedem von uns verborgen liegt. Lasst uns eine Utopie denken – leben – die von Frieden gekennzeichnet ist; lasst uns das Unmögliche denken: Frieden in Europa, Frieden auf der Welt. Lasst uns gemeinsam Schiller lesen und versuchen, den Geist der Dichter und Denker von früher zu inhalieren:

Die Worte des Glaubens
(Friedrich Schiller)

Drei Worte nenn ich euch, inhaltschwer,
Sie gehen von Munde zu Munde,
Doch stammen sie nicht von außen her,
Das Herz nur gibt davon Kunde,
Dem Menschen ist aller Wert geraubt,
Wenn er nicht mehr an die drei Worte glaubt.

Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei,
Und würd er in Ketten geboren,
Laßt euch nicht irren des Pöbels Geschrei,
Nicht den Mißbrauch rasender Toren,
Vor dem Sklaven, wenn er die Kette bricht,
Vor dem freien Menschen erzittert nicht.

Und die Tugend, sie ist kein leerer Schall,
Der Mensch kann sie üben im Leben,
Und sollt er auch straucheln überall,
Er kann nach der göttlichen streben,
Und was kein Verstand der Verständigen sieht,
Das übet in Einfalt ein kindlich Gemüt.

Und ein Gott ist, ein heiliger Wille lebt,
Wie auch der menschliche wanke,
Hoch über der Zeit und dem Raume webt
Lebendig der höchste Gedanke,
Und ob alles in ewigem Wechsel kreist,
Es beharret im Wechsel ein ruhiger Geist.

Die drei Worte bewahret euch, inhaltschwer,
Sie pflanzet von Munde zu Munde,
Und stammen sie gleich nicht von außen her,
Euer Innres gibt davon Kunde,
Dem Menschen ist nimmer sein Wert geraubt,
So lang er noch an die drei Worte glaubt.

Dies ist der Beginn einer neuen Epoche; einer Epoche der Dichter und Denker, ihr wir alle hier sind mit dabei; der erste Schritt ist getan. Jetzt geht die weiteren.

Lyrikband

 

Fortsetzung folgt …

S.

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