„Die Unschuld grassiert wie die Pest.“ Diesen Satz schrieb Erich Kästner am 8. Mai 1945 in sein Tagebuch – am Tag der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands. Kästner führte seine Aufzeichnungen während der NS-Zeit und insbesondere in den letzten Kriegstagen. Ich lese viel, und in dieser Phase intensiver Lektüre ist mir Erich Kästner als Autor besonders nahegekommen. Seine Sprache, sein Humor, seine Klarheit – all das habe ich schätzen und lieben gelernt.
Derzeit lese ich Notabene 45, Kästners eindrucksvolles Tagebuch aus dem letzten Kriegsjahr. Parallel dazu begleiten mich Uwe Wittstocks Marseille 1940: Die große Flucht der Literatur sowie Meistererzählungen von Siegfried Lenz. Nicht selten türmen sich die Bücher neben meinem Bett, und zu später Stunde arbeite ich mich durch meinen Stapel. Die Zeitspanne zwischen 1900 und 1950 steht im Zentrum meiner Lektüre. Ich durchlebe, durchdenke, durchleide diese Jahre – in dem Versuch, die Geschichte zu begreifen und die Menschen zu verstehen, die Teil dieser Geschichte waren – und in gewisser Weise noch sind.
Auf der Rückseite von Notabene 45 steht ein Satz, der mir nachgeht: „Erich Kästners Aufzeichnungen über das Ende des Zweiten Weltkriegs – ein einzigartiger Bericht und ein zeitloser Aufruf zu Mitmenschlichkeit.“
Notabene, aus dem Lateinischen: wohlgemerkt. Zusammengesetzt aus nota (Zeichen, Merkmal) und bene (gut). Kästners Werk ist mehr als ein Zeugnis – es ist Mahnung und Appell. Ich meine: Notabene 45 sollte Pflichtlektüre sein. Kein junger Mensch, kein Schüler, sollte an diesem Buch vorbeigehen. Warum? Um zu verstehen, was war – und warum es war. Vor allem aber, um wachsam zu bleiben. Damit sich die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen.
In den letzten Tagen stieß ich – eher zufällig – auf eine Video-Zusammenstellung mit Helmut Kohl. Der Altbundeskanzler, der von 1982 bis 1998 regierte, war promovierter Historiker. Ich habe drei Zitate von ihm herausgesucht:
Über das historische Bewusstsein:
„Wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen und die Zukunft nicht gestalten.“
– Helmut Kohl
Über die deutsche Verantwortung nach dem Zweiten Weltkrieg:
„Vergangenes darf nicht vergessen werden. Es lebt in unserer Verantwortung weiter.“
– Helmut Kohl
Zur Einheit von Geschichte und Zukunft:
„Zukunft braucht Herkunft.“
– Helmut Kohl, nach einem Gedanken von Odo Marquard
Diese Worte wirken in unserer Gegenwart wie eine Mahnung. Denn wir leben in einer Zeit, in der der öffentliche Diskurs zunehmend von Rufen nach Aufrüstung und militärischer Stärke geprägt ist. Viele Menschen haben den Krieg nicht mehr persönlich erlebt – ich selbst gehöre dazu. Doch man muss keinen Krieg durchlebt haben, um zu ahnen, was er bedeutet. Trotz intensiver Lektüre, trotz vieler Quellen und Randnotizen bleibt das Bild immer vage – und dennoch ist die Verantwortung spürbar.
Besonders beunruhigend finde ich die Kehrtwende, die Joschka Fischer, einst Symbolfigur des grünen Pazifismus, in jüngster Zeit vollzogen hat: Er plädiert für massive Aufrüstung, hält die Aussetzung der Wehrpflicht für einen Fehler und hält sogar den Einsatz deutscher Soldaten in der Ukraine für denkbar. Das ist der neue Zeitgeist, getragen von einem elitären Denken, das sich von der Bevölkerung zunehmend entfernt.
Doch was sagt das Volk? Was sagen die Menschen – nicht auf Konferenzen oder in Talkshows, sondern in ihrer Lebensrealität? Vieles, was derzeit als alternativlos gilt, würde sicher auf Widerspruch stoßen, wenn die Tragweite verstanden würde. Erinnern ist der einzige Schutz vor Vergessen. Und Vergessen ist der Nährboden für Wiederholung.
Leider stimmen viele Medien längst ein in diesen Chor. Der Journalismus hat in weiten Teilen seine Rolle als vierte Gewalt, als kritische Instanz, verloren. Statt Reibung gibt es oft nur noch Bestätigung. Dabei ist Sprache mächtig – und Journalisten haben eine Verantwortung.
„Nihil est enim aliud eloquentia nisi copiose loquens sapientia.“
– Marcus Tullius Cicero
Übersetzung und Anmerkung zum Cicero-Zitat: „Beredsamkeit ist nämlich nichts anderes als weise Rede in Fülle.“ (wörtlich: „Denn Beredsamkeit ist nichts anderes als reichlich sprechende Weisheit.“) Er betont damit, dass wahre Redekunst auf Weisheit beruht, die sich in ausdrucksstarker Sprache zeigt. Ferner gilt, dass gute Berichterstattung mehr braucht als Sprachgewandtheit. Sie braucht Mut, Unabhängigkeit und Klugheit. Früher war das noch spürbar – auch in der Reibung zwischen Politik und Medien. Wer sich heute alte Aufnahmen von Helmut Kohl ansieht, merkt, wie anders der Ton einst war. Die respektvolle Auseinandersetzung, das Ringen um Deutungshoheit – all das scheint verloren gegangen zu sein. Mit ihr ein Stück demokratischer Kultur – und Cicero scheint vollends in Vergessenheit geraten.
Link zum H. Kohl-Video: youtu.be/bmisW-igJqQ?si=sZg8jUs89PyV3q4L
„Vergangenes darf nicht vergessen werden. Es lebt in unserer Verantwortung weiter.“ Das Lesen von Erich Kästner und seinem Werk Notabene 45 ist ein kleiner Baustein, der dem Vergessen entgegenwirkt und letztendlich an die Verantwortung appelliert, diesen Unzeiten in Deutschland keinen zweiten roten Teppich auszulegen, sodass wir das Vergangene nicht aufs Neue erleben müssen. Ich frage mich: Wie schnell sind wir im historischen Vergessen?
Sapere aude!
S. Noir