Der Tag, an dem in Deutschland das Denken brannte – 10. Mai 1933
„Das Ende des Zweiten Weltkrieges erlebt man nicht alle Tage. Also, denkt man, müsste dieser neunte Mai ein außergewöhnlicher Tag sein. Doch es war ein ganz gewöhnlicher Tag. Die Straßen waren leer. Die Leute gingen umher, als ob nichts geschehen wäre. Nur der Himmel war so blau wie selten.“ (Erich Kästner, Notabene 45, Eintrag vom 9. Mai 1945)
So beginnt ein stilles, ehrliches Zeugnis vom Tag nach dem Ende eines Weltkrieges – notiert von einem Mann, der mehr als viele andere wusste, dass das Ende eines Regimes nicht auch das Ende seiner Schatten bedeutet. Kästner, der geblieben war. Kästner, der beobachtet hatte. Kästner, der zwölf Jahre zuvor gesehen hatte, wie seine eigenen Bücher ins Feuer geworfen wurden.
Wenn man heute den 9. Mai 1945 Tag der Befreiung nennt, bleibt ein Echo im Hintergrund. Denn der Weg zu dieser Befreiung führte über viele andere Daten. Und eines davon, so bedrückend wie symbolträchtig, war der 10. Mai 1933.
Ein Tag vorher – und Jahre voraus
Der Tag, an dem in Deutschland das Denken brannte. In Berlin, auf dem Opernplatz, inszenierten Studenten, Professoren, SA-Männer und andere Funktionäre die sogenannte „Aktion wider den undeutschen Geist“. Mit Fackeln, Marschmusik und Parolen – einem makabren Theater gleich. Bücher wurden auf Scheiterhaufen geworfen. Gedanken. Träume. Kritik. Vielfalt.
Nicht zufällig. Nicht spontan. Sondern geplant, propagiert, öffentlich zelebriert.
Was brannte?
- Erich Kästner, dessen Fabian als „moralisch zersetzend“ galt. Auch Emil und die Detektive – obwohl ein Kinderbuch – wurde wegen seiner urbanen Milieuschilderung und Kästners Haltung als „staatszersetzend“ verurteilt.
- Heinrich Mann, Autor von Der Untertan, das die Obrigkeitshörigkeit bloßlegte.
- Bertolt Brecht, Die Dreigroschenoper, Mutter Courage.
- Sigmund Freud, Die Traumdeutung.
- Alfred Kerr, scharfer Kritiker, stilistisch brillant.
- Anna Seghers, Die Gefährten.
- Kurt Tucholsky, dessen Satire den Nationalismus demontierte.
- Stefan Zweig, Die Welt von Gestern – ein Vermächtnis des Humanismus.
Und viele mehr. Jüdinnen und Juden. Sozialisten. Pazifisten. Frauen. Freigeister.
Erich Kästner war auf dem Platz. Inkognito. Kein Wort, keine Geste, nur Augenzeuge. Er schrieb später: „Ich stand am Rand des Platzes. Und sah meine Bücher brennen. Es war ein ungeheurer Anblick. Und ein ebenso ungeheurer Augenblick. Ich hatte das Gefühl, als würde ich mich selbst ins Feuer werfen.“
Hier beginnt der Abstieg in die Dunkelheit. Nicht mit Bomben, nicht mit Befehl – sondern mit Symbolen. Mit einer Geste, die zeigen sollte: Worte dürfen keine Macht mehr haben. Es war das Exil der Vernunft. Die Zensur der Seele. Das vorsätzliche Verlöschen von Vielfalt.
Vom Flammentod der Bücher zum Ruin der Welt
Zwölf Jahre lagen zwischen diesen beiden Tagen. Zwölf Jahre Terror, Unterdrückung, Ausgrenzung, Mord. Der 9. Mai 1945 brachte das Ende dieser Herrschaft – doch der Beginn ihrer Unmenschlichkeit war längst zuvor erfolgt.
„Wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen.“ (Heinrich Heine)
Die Bücherverbrennungen waren keine Randnotiz, kein Folkloreakt aus studentischem Übermut. Sie waren die Ouvertüre. Der ideologische Beginn dessen, was später industriell wurde. Ein Versuch, die geistige Landschaft zu homogenisieren. Und in der Folge: die menschliche zu zerstören.
Wenn heute gefragt wird, ob der 8. oder 9. Mai ein Tag der Befreiung war, dann muss die Antwort lauten: Ja, aber nicht bedingungslos. Denn das, was befreit wurde, musste sich erst wieder selbst finden. Die Literatur, die Sprache, die Freiheit – sie lagen unter Trümmern, nicht nur aus Stein.
Der Dichter als Chronist der Asche
Kästner blieb in Deutschland. Er sprach leise, schrieb für Kinder, bewahrte Würde. Seine Notabene 45 sind keine heroische Abrechnung, sondern eine stille Diagnose. Am 9. Mai war es still, schrieb er. Am 10. Mai war es laut. Zerstörerisch laut. Und die Stille danach – sie blieb lang.
Vielleicht sind es genau diese stillen Beobachtungen, die unser Gedächtnis schärfen. Vielleicht liegt in der leisen Chronik des Untergangs mehr Wahrheit als in jeder dramatischen Gedenkfeier. Vielleicht müssen wir heute nicht lauter, sondern genauer erinnern.
Denn wie Kästner wusste: Der nächste Scheiterhaufen muss kein Feuer mehr sein. Es genügt Desinteresse.
Sapere aude!
S. Noir